kindheit |
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text-fragmente dietmar wegewitz |
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"...ohne das würde alles noch schlimmer gehen, und unsere art will nicht nur halb zugerichtet sein. wie die dinge fernerhin sich gestalten, würde ein von geburt an mitten unter den andern sich selbst überlassener mensch der entstellteste von allen sein. vorurteil, beeinflussung, zwang, beispiel, alle die gesellschaftlichen einrichtungen, die uns überfluten, würden die natur in ihm ersticken und nichts an ihrer stelle zurücklassen. es würde ihm gehen, wie einem bäumchen, das der zufall mitten auf der landstraße hervorwachsen lässt und das die vorübergehenden, die rechts und links daran stoßen und es nach allen richtungen umbeugen, bald verderben. " *1: JEAN JAQUES ROUSSEAU – Emile ( ex libris 1987 ) GLEICH WERDE ICH AUFBRECHEN, BALD WERDE ICH ANKOMMEN, NOCH BIN ICH HIER *2 die
landschaft der kindheit wird wohl begradigt sein, dachte er. die niers
- mit ordnungsgemäß angelegtem wanderweg? von schildern und sperrgittern
umzingelt? die reise dorthin, ja, er werde sie antreten. zunächst nur
sehen, was nach so langer zeit noch erinnerbar sei. eine brücke, über
der niers. ausgangspunkt und übergang. in sichtweite des hauses:
viele fenster. eine treppe aus stein. das eingangstor. ein großer flur
und türen. ganz vorn, linke seite, die türe zum zimmer, wo sie bis zu
seinem zehnten lebensjahr hausten. KINDHEIT - DIE BRÜCKE wenn
er die brücke über der niers überschritt, gabelte diese straße nach hundert
metern links im stumpfen winkel ab, geradeaus aber führte sie in richtung
eines schlachthofes, raus, zu den vororten der stadt rheydt, an der niers.
linker hand lag ein eingezäunter acker, und dahinter, an den wald unmittelbar
angrenzend, die pferdekoppel. am rechten straßenrand, unmittelbar neben
der niers, gab es eine große saftige wiese, mit ein paar kühen. im anschluß
daran folgte ein kleines wohnlager, von menschen, die anders zu sein schienen,
welche ganz unter sich blieben. sie wohnten nicht in gemauerten häusern,
lebten ständig unter freiem himmel, zwischen gespannten zeltplanen. umgeben
von weiden, hecken und verbretterten hohen zäunen. von einigen wellblechen
eingefaßt, lag dieses camp wie eine geheimnisvolle kleine insel darin.
rauch sah er dann oftmals aufsteigen. am offenen feuer hockten sie, im
kreise. er sah ihre schatten, vernahm vage laute, als er mit neugierigen
sinnen an den brettern des großen holztores lauschte. auch dort gab es
einst spielende kinder, die er aber den ort nie allein verlassen sah.
daß es korbmacher waren, wußte er, seit er sie ausfahren sah. die wagen
waren von oben bis unten mit allerlei geflochtenem, große, kleine körbe
meist, übervoll beladen und behangen. lief
er diese straße nun weiter geradeaus, später den waldrand entlang, kam
er auf der linken seite an einer der kleineren zwergschulen ( katholische
vorschulen? ) vorbei. dann folgte er der nächsten straßenkreuzung in einem
bogen nach links. dort streifte er nun bald die rückseite des waldes.
ein stück weiter des weges sah er, zwischen den bäumen versteckt, das
große forsthaus. diese straße ging er nun immer weiter geradeaus, bis
sie wiederum auf eine breitere straße stieß. auch diese überquerend, danach
an den feldern entlang, mal wieder rechts, mal links, sah er bald auch
wieder die niers, was jetzt davon noch sichtbar war. denn jetzt floss
sie weniger tief, wurde von betonrändern eingefaßt. nun endlich mit dem
lauf der niers immer weiter geradeaus. so gelangte er schließlich nach
schloß rheydt. tagsüber
überkletterte er das gatter, an der großen wiese; es riß ihm oft ein loch
in die hose, die wunde ins fleisch. die wiese: saftige grasbüschel gaben
ein schmatzendes geräusch von sich. meist war sie feucht oder stand im
frühjahr unter wasser, besonders nach schneereichem winter, wenn die niers
wesentlich mehr wasser führte und dort an manchen tagen fast bis zur uferböschung
anstieg. an einem dieser tage sah er gebannt einem meisenpaar zu, das
in einem eisenrohr nistete, welches den stacheldraht des zaunes hielt.
unermüdlich flogen diese meisen aus und wieder ein. erstaunlich, daß dieses
unscheinbare detail sich so nachhaltig in sein wesen eingenistet hat.
so überaus sinnlich greifbar. er hatte auch mal versucht, ein vogelnest
samt jungvogel mitzunehmen. dieser kleine vogel sei umgehend gestorben.
er habe ihn begraben, ein holzkreuz mit halmen gebunden und es zum abschluß
der zeremonie feierlich aufgestellt. immerhin lernte er so, künftig die
finger von den vögeln zu lassen. nicht von erziehern, sondern < nur
> von der natur belehrt. ob es ein schwarm winziger jungfische oder
ein stichling war, damals noch häufig die größeren, bis 15 oder 20cm langen
weißfische, die so genannt wurden, da sie im licht der sonne silbern,
bis ins hellste weiß glänzten. KINDHEIT - IM FLUSS DER ZEIT urplötzlich prasselt ein kleines naturereignis hernieder, wolken rissen auf, im nu stand die ganze römerstraße bürgersteighoch unter wasser. sie liefen und sprangen herum, waren wie von sinnen, entledigten sich der nassen kleider, wateten barfuß durch's sich stauende wasser. die niers war das treibende element fliessender eindrücke. die niers: "rechter nebenfluß der maas, 109 km." so kurz wird im lexikon < sein fluß > beschrieben. die quelle liegt in wanlo, wo aber mündet die niers? natürlich könnte man sich kundig machen. es werde seine archaische erfahrung, was er mit dem < fluß der zeit > verbinde, kaum bereichern. was war und was ist: ohne anfang und ohne ende? an jenem tag waren auch noch zwei klapprige fahrräder vom schrottplatz geholt worden. es gab ein rennen, zwischen den kindern auf den rädern und dem rennenden rest. dieser teil der römerstraße war kurz und bog vor dem haus im rechten winkel nach links ab. man kam sich in die quere. es wurde gestoßen und geschubst, zugetreten. zuerst rutschte und stürzte einer, dann der ganze haufen, spätestens in der biegung, am ende der überschwemmten straße. die radfahrer stürzten, weil ein ausweichen zu spät erkannt wurde oder eine kette aus der führung sprang. etwas lag im wege, das man im trüben wasser nicht sah, ein stein oder schuh. während sich bei einem der ineinander verkeilten fahrräder das gesetz der schwerkraft bemerkbar machte: indem ein in die luft ragendes rad sich noch eine weile drehte, bis es allmählich auslief, ganz langsam zum stillstand kam: leerlauf, reibung. die natur der dinge. ja, alles war da. die natur ist ihm das höchste geblieben, hat ihn mit allerlei anschauungsmaterial und phänomenen bestens versorgt. auf
dem großen schrottplatz konnten die kinder zwar unbehelligt herumklettern,
der schrott selbst aber war größtenteils tabu. doch reichte es, um ein
paar seifenkisten zu bauen. die räder von kaputten kinderwagen, karosserien
aus holz, mit blechstreifen zusammengehalten, verdrahtet, genagelt und
verknotet. eine steile abfahrt gab es in diesem viertel zwar nicht, doch
not macht erfinderisch. wie verschweißt mit diesen kisten, zog man die
beine an, im wettrennen. dabei ríß ihm bei einer allzu eifrigen fahrt
ein sperriger dicker draht den rechten zeigefinger bis auf den knochen
auf. die narbe ist noch heute deutlich zu sehen. die not-verarztung war
damals nicht sonderlich sorgfältig. immer wieder neue wunden, aber so
etwas wächst sich rasch aus. das war im nu vergessen. das war nicht weiter
schlimm, es gehörte dazu. im herbst sammelten sich die bewegungen im wirbelnden
taumel gefallener blätter. wenn die wilde kinderschar darüber sprang und
sich ins aufgeworfene laubwerk warf, riß oft die haut auf an den knöcheln,
ein knie blutete, eine kürzlich erst verschorfte wunde platzte wieder
auf. ein übersehener stolperstein oder eine kuhle im boden, vom knickern
übrig geblieben. die knickersteine waren in blasse farben getaucht, in
kleinen netzen verpackt. wenn er endlich selbst genug groschen hatte,
war eine handschale voller knicker eine kleine kostbarkeit. knickern war
ein schönes spiel, hier war etwas mehr ruhe und geschicklichkeit gefragt.
papierdrachen habe er besonders gerne aufsteigen lassen. himmel und hölle,
das hinkelspiel, erinnere er noch gut. und: "dubbelidup, wat soll
dä donn, däm dat pfand jehürt?" mit der zeit wußte man, welche hand
auf den rücken schlug. die richtigen steine kamen nicht zufällig geflogen,
das war absicht, beflügelt vom motorischen reflex, irgendwas zu tun, das
folgen hatte, für den, den der stein traf. ÄSTHETIK DES SCHEITERNS - am rand der wörter ( buch 2, seiten #43 bis 54 - gekürzt ) © dietmar wegewitz
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