kindheit |
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text-fragmente dietmar wegewitz |
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KINDHEIT - HUNGER da sie zuhause oft hunger leiden, gibt es keine geregelten mahlzeiten. meist spielt er bis zum einbruch der dämmerung draußen. eines schönen tages steht er mit anderen kindern am rand einer großen baugrube. eines der kinder hat ihn hineingestoßen. wie er es geschafft hat, aus dieser grube herauszukommen, weiß er nicht mehr. vielleicht half ein arbeiter ihm dabei. er kommt erst wieder zu sich, als er auf einer großen wiese liegt. er hat starke schmerzen, besonders in der schulter. die wiese liegt auf halbem wege zwischen dem wohnblock und der grube. da er weiß, daß zuhause niemand ist, bleibt er noch eine ganze weile dort liegen. da die schmerzen nicht nachlassen, erhebt er sich. einen schlüssel für die wohnung hat er. sein bedürfnis, sich ins bett zu legen, treibt ihn. beim versuch sich auszuziehen, spürt er einen stechenden schmerz. er findet eine schere und schneidet schließlich sein hemd auf. dann ist er eingeschlafen. als
seine mutter nachhause kommt und das kaputte hemd sieht, ist sie völlig
außer sich. sie hat ihn sogar mehrmals geschlagen. irgendwann hat sie
dann doch gemerkt, daß seine schmerzen nicht allein von den schlägen herrühren
können. die mutter konnte nicht sehen, was ihm fehlt, daß er verletzt
ist und dringend zum arzt muß. da er den weg zum arzt kennt, geht er alleine
hin, wie so oft schon. die arztpraxis liegt in der nähe seiner schule.
als der arzt ihn untersucht hat, wird er umgehend mit einem krankenwagen
ins rheydter kinderkrankenhaus gebracht. später wacht er in einem großen
fremden zimmer auf. daß er operiert worden ist, weiß er nicht. allein,
daß er in diesem ganz fremden bett liegt, ist ungewöhnlich genug. er ist
wiederholt eingeschlafen und wieder aufgewacht – noch immer liegt er in
diesem großen und fremden raum. man bringt ihm sogar öfters was zu essen
ans bett. er guckt häufig aus dem fenster, als fände er dort eine antwort.
er antwortet leise und sehr schüchtern auf einige der fragen, die ein
arzt oder eine krankenschwester stellt. bald fühlt er sich besser. ja
er fühlt sich sogar sehr gut. die tage sind viel, viel heller als sonst. er
wurde oft zum bäcker geschickt, um zu fragen, ob nicht etwas trockenes
brot übrig wäre. schon sieht er sich wieder zu dem laden gehen und durch
das fenster gucken, ob noch andere leute da sind, welche gerade brot kaufen
- und welche frau hinter der theke steht. denn man weiß ja nie. nicht
jedesmal bekommt er ein stück brot, wenn er betteln gehen muß. außer
im krankenhaus oder im kinderheim gab es in seiner kindheit höchst selten
was gutes zu essen. an ein normales stück fleisch, mit beilage, war überhaupt
nicht zu denken. bei einer kartoffelkäferplage gab es damals für soundsoviel
eingesammelte käfer soundsoviel groschen oder kartoffeln. von den schalen
der kartoffeln, ob erarbeitet oder geklaut, hat seine mutter ganz zuletzt
noch eine suppe gemacht. die suppe hat er plastisch vor augen, da sie
gemeinsam weinten. obst und leckereien gab es einmal im jahr, zu weihnachten.
er sieht sich bei einer dieser wohlfahrts-weihnachtsfeiern, in einem saal,
unter vielen kindern. auf der großen bühne steht der nikolaus. die kinder
sind dann einzeln über eine kleine treppe zur bühne gelaufen, um dort
eine tüte mit leckereien in empfang zu nehmen. er hat große angst vor
dem gang dorthin, da er glaubt, der knecht ruprecht werde ihn in einen
großen sack stecken und ihn dann einfach in ein klosett stopfen, die spülung
betätigen - und weg wäre er! fast bis zum zehnten lebensjahr ist er bettnässer
gewesen. es gab nur ein außenklo. nachts pinkeln sie in einen eimer. 1954
ist er in ein kindererholungsheim gekommen; niendorf/ostsee. im streng
katholisch geführten heim versuchen schwestern eine art teufelsaustreibung.
gewaltsam werden dort die daumenlutscher nachts ans bett gefesselt oder
deren finger werden mit einem scharfen zeug eingerieben. was sie damals
mit bettnässern angestellt haben, hat er vergessen. kinder mit starkem
übergewicht müssen literweise essigsoße trinken, die aus den salatschüsseln
zusammengekippt wurde. kinder die ihren nachtisch nicht mögen, kriegen
solange einen neuen hingestellt, bis sie ihn nicht mehr auskotzen, die
schüsseln leer sind. diese texte
sind autobiografisch, 1991-1996 entstanden in einer schweren lebenskrise.
die wahl der 3. person ER statt ICH brachte genug emotionale distanz,
um eine brücke zu sprache und schreibstil als erwachsener zu bauen.
ÄSTHETIK DES SCHEITERNS - am rand der wörter ( buch 2, seiten #65 bis 68 - gekürzt ) © dietmar wegewitz |
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