kindheit

text-fragmente dietmar wegewitz

KINDHEIT - VOM LAUT ZUM KLANG

draußen aber sah er den hellen, weiten, fernen himmel an. er lernte von der natur. er lauschte den vögeln und sprang den fröschen und grillen hinterher. er streckte die beine aus, wartete lange auf das tier. er hörte das gras wachsen. bis es dunkel war. so war seine zeit vom licht geleitet. oft sah er eine ewigkeit lang zu, wie eine hummel oder ein bienenvolk fleißig war, die libellen sich dicht über das wasser schraubten, ein habicht höher und höher stieg, mal große, mal kleinere kreise zog, jäh herabzufallen schien. ein stichling, mit roter kehle, ein schwarm weißfische, kam angeschwommen, verschwand. ein käfer krabbelte auf und davon. ein wurm wurde verschlungen. von den stummen fischen lernte er, lange zu schweigen.

KINDHEIT - IM FLUSS DER ZEIT

er sehe sich noch auf der brücke stehen, das schwankende netz aus geflochtenem draht mit langen kordeln in beide hände nehmend, holt er weit aus, seine kinderarme beschreiben einen hohen bogen in der luft. und er verliert den halt, stürzt kopfüber in den fluß. während er sich noch in zeitlupe stürzen sieht, hört er, wie die anderen kinder - schadenfroh - lachen. er sehe sie rennen, er höre sie rufen: "dietmar ist wieder in den fluß gefallen..." er sieht nun den helleren lichtbogen auch, am anderen ende. unter dem dunkel der brücke erscheint der fluß tiefer und tiefer. er tastet sich langsam zögernd voran, watet ins ungewisse. er sieht mehrere schattenrisse - angeschwemmt, verhakt. langsam verrottende figuren. magische gestalten. die brücke hüllt das geheimnis der herkunft ins dunkle. heute denkt er, es war vielleicht hineingeworfener sperrmüll, ein stück schrank oder eine vermoderte matratze. dem kind aber waren sie damals mimen, gaukler, die - schon lange unterwegs - hier rasteten, sich eine zirkuspause gönnten. einsame, stumme wanderer. im fluß der zeit. seine pitschnassen kleider, furcht, kälte und jegliche not vergessend, versucht er, es ihnen gleich zu tun - und halb schwimmend, halb treibend, schwankend und stolpernd, steigt er über den glitschigen grund der niers. er wußte, nur vor der schleuse war der fluß tiefer als sein kopf unter wasser, wo er einst vom angeschwemmten schilf, das als boot dienen sollte, herabgestoßen wurde und noch mit offenen augen staunend sich fortbewegte, mehr gehend als schwimmend, zum rettenden ufer hin; wo er erst später zu schwimmen lernte. aus der sicht erwachsener ist dieser fluß nur ein flüßchen. er ist nun mitten im gewölbe. seine augen sehen die fliehenden wasserratten. doch habe er auch davor keine angst. er erinnere: nur die großen wanderratten, die mochte keiner. und doch ist er froh, daß er am ende dieses tunnels wieder alles klar und deutlich erkennt, bis er wieder ins licht tritt. als erstes sieht er einen kleinen weißfischschwarm durch seine beine flitzen. im schilf und zwischen den steinen. er sieht sie, wie kleine schuppige blitze jagen sie auf und davon, drehen sich, stocken, schweben für einen moment auf der stelle, schwimmen flußaufwärts, treiben mit der leichten strömung flußabwärts davon.


dort also entdeckte er, lange bevor er andere menschen oder sich selbst zum ersten mal bewußt sprechen hörte, daß es oft nicht wichtig sei, ob man für alles einen namen weiß, daß nicht immer wahr sein muß, was man höre oder nenne. er lernte zu sehen - aber auch zu verschweigen. wenn er hin und wieder mit den vielen kindern aus dem viertel von hohen mauern springt, in einer zerbombten ruine herumklettert oder die noch offenen kanäle hinabsteigt, viel sah und erlebte, mit den kindern sogar karbidbomben explodieren läßt, dann ist ihm klar, die mutter darf das nicht wissen.
die mutter machte sich ohnehin zuviele dunkle gedanken. gab es mit ihr überhaupt eine - wortlose - gemeinsame sprache? ihm ist heute schleierhaft, wie er damals sprechen lernte. es ist viel häufiger so, daß er ganz alleine spielt und hofft, das unbekannte eher zu entdecken. wobei er ohnehin meist tagträumt, zeitlos unterwegs ist, dabei viele tiere sieht. dazu aber sind die anderen kinder zu laut, zu gewalttätig. einmal hat er gesehen, wie mehrere kinder sich einen großen spaß daraus machten, einen lebendigen frosch mit einem strohhalm aufzublasen! er war ganz furchtbar entsetzt. da er sich darüber schrecklich aufgeregt hat, hörte er auf, ein teil der gruppe zu sein. auch das ist eine urerfahrung. er habe es niemals vergessen. wie auch die gewalttat eines mannes nicht, der auf dem schrottplatz ( zur belustigung aller - nein, ihn hat es tief getroffen ) einem hahn mit seiner bloßen hand den kopf abdreht. der kopflose hahn rannte dann noch etliche runden, wie von sinnen, im kreis.


in der wiederholung merkt das kind, später als knabe und mann, daß die fehlenden antworten immer noch in der seele brennen. doch niemand ist noch da, den er fragen könnte. einige antworten sind im laufe der jahre vom leben gegeben worden. die zeit ist verloren, wo es möglich war, sich treiben zu lassen, sich über die vergangenheit hinwegzusetzen, wo er zu früh oder zu spät die wahrheit erkannte. eine wahrheit, die schmerzt. die zeit der enttäuschung ist im fluß der zeit fortgetrieben, untergegangen, versunken. was bleibt? wie darauf antworten? lauter - dumme fragen.


diese texte sind autobiografisch, 1991-1996 entstanden in einer schweren lebenskrise. die wahl der 3. person ER statt ICH brachte genug emotionale distanz, um eine brücke zu sprache und schreibstil als erwachsener zu bauen.
ÄSTHETIK DES SCHEITERNS - ( buch 2, muttersprache - seiten 23-25 - gekürzt ) © dietmar wegewitz

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