der übergang

text-fragmente dietmar wegewitz

viele der frühen erinnerungen sind damit verknüpft, oft der körperlichen gewalt ausgesetzt zu sein, weil er nicht dazu gehörte, sich nicht anzupassen und nicht zu wehren wußte. auf der straße sind es die kinderspiele, wo das wechselspiel in bewegung gerät, daß er sich immer wieder in die rolle eines außenseiters versetzt sieht. er weiß sich bald gezielt abzusetzen, zu vereinzeln. er verweigert sich, erträgt die mißhandlungen der größeren kinder, indem er sich innerlich unangreifbar macht. aus seiner orientierungslosigkeit und sprachlosigkeit heraus wächst sein widerstand. im einklang ist er immer nur in der natur, die ihn umgibt, ihn leitet, umtreibt. dort fühlt er sich nicht verloren oder einsam. früh wird es auch im zweckfreien spiel deutlich, weshalb er dazu neigt, sich abzusondern, sich den regeln einer gruppe zu entziehen.

als das ausmaß widersprüchlicher empfindungen allmählich bewusster nach eigenen wegen sucht, er anfängt, zu begreifen, daß er anders ist als alle anderen kinder im wohnviertel, zu diesem zeitpunkt – 1955 - wird er plötzlich herausgerissen, aus tagträumen, ängsten. sie ziehen um, in eine andere gegend, wo er umlernen muß. sie wohnen ab 1955 in der dahlenerstraße 150; immer noch in rheydt. in einer kleinen zweizimmer-wohnung, parterre. auch dort gibt es nur ein außenklo. er ist inzwischen kein bettnässer mehr. auch in diesem haus spricht die mutter mit niemand, weder mit nachbarn, noch mit irgendjemand sonst.

zur katholischen volksschule dahlenerstraße ist es von der wohnung ein katzensprung. diese schule besucht er bis zur schulentlassung, im jahr 1958. parallel zur dahlenerstraße liegt die bachstraße. zu dieser straße kommt man, von der wohnung aus gesehen, wenn man um die nächste ecke links abbiegt, in eine straße mit einem starken gefälle. am ende, nun rechts die bachstraße entlang, kommt man zu einem kleinen lebensmittelladen. der lebensmittelladen ist für arme leute die erste adresse, man kann kleine einkäufe anschreiben lassen. immerhin ist es inzwischen etwas besser, obwohl er auch diese gänge zum pumpladen nur sehr ungern tut; meist geht er ohne geld los. da seine mutter invalide - gehbehindert - ist, oft keine passende prothese hat, die vorhandene schmerzt, kann sie allein aus diesem grund nicht gut laufen. auch wenn sie problemloser gehen kann, meidet sie menschen. die schwester wird mit solchen dingen nie konfrontiert, sie bleibt stumm, emotional unbeteiligt - was auch immer passiert.

schlimmer ist, seine geliebte natur, diese nierslandschaft, in unmittelbarer nähe der alten wohnung, ist ihm genommen. doch erweitert er auch hier schon bald sein revier, wo er außerhalb der schulzeit ausgiebige streifzüge unternimmt. da er sich in diesem neuen umfeld noch viel fremder fühlt, spürt er, was er vermißt, was er verloren hat: die natur. den kindern fühlt er sich auch hier nicht zugehörig. als er eines tages mal wieder von mehreren jungs in die zange genommen wird, findet er ausgerechnet in einem jungen, der sich oft schlägt, den fürsprecher. er erlebt zum ersten mal, daß jemand ihm hilft und sein anderssein akzeptiert. er ist nun seinerseits wieder öfters an einem unfug beteiligt. eines tages wird er mit mehreren mitschülern erwischt oder verpetzt, als sie in einer schulpause um die wette pinkeln. sie haben sich auf der bachstraße aufgestellt, am anderen ende des schulhofs, eigentlich außerhalb des schulgeländes. sie stehen vor der schulmauer und versuchen herauszufinden, wer höher und weiter zu pinkeln versteht. typisch, für die sozialisation zum mann? eher bemerkenswert, daß er sich noch immer sehr deutlich daran erinnere. weil mit diesem unfug einhergeht, fortan auch im klassenverbund akzeptiert zu werden. denn diese aktion hat ein einprägsames nachspiel, da er und die anderen jungs nach der pause vor die versammelte klasse treten müssen, wo der rektor, der zudem ihr klassenlehrer ist, ihnen jeweils zwei schallende ohrfeigen verpaßt. tatsächlich hat er ab diesem tag kaum noch probleme mit den mitschülern. auch die beteiligung am unterricht ist besser geworden, seine leistungen werden in folge besser benotet. er ist kein feigling. denn schon im ursprünglichen umfeld hat er oft bei lebensgefährlichen kinderspielen mitgemacht. das war etwas völlig anderes, als sich zu verweigern, wenn es galt, tiere zu quälen oder kleine, schwächere kinder zu schlagen.

spätestens nachdem im ursprünglichen sinne von zweckfreiem spiel, in aller unschuld, keine rede mehr sein konnte, ab diesem punkt hat er sich aufgelehnt, gegen die regeln einer gruppe oder eines anführers, denen andere zu folgen beliebten. er habe sich niemals ein-unter-ordnen wollen oder können. das recht des stärkeren ist, sich geltung zu verschaffen, in einer gruppe. das aber ist seine sache noch nie gewesen. als außenseiter lernt man früher oder später, bewußter wahrzunehmen, anders zu denken, ob mit oder ohne sprache der wörter.

diese texte sind autobiografisch, 1991-1996 entstanden in einer schweren lebenskrise. die wahl der 3. person ER statt ICH brachte genug emotionale distanz, um eine brücke zu sprache und schreibstil als erwachsener zu bauen.

ÄSTHETIK DES SCHEITERNS - ( aus buch 2 muttersprache/kindheit - das ganze buch hat 144 seiten ) © die-wege

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