berlin1992

„die würde des menschen..." BERLINdemo 7.-8.11.1992

Am 7.11.1992 ist er um 16-Uhr-44(!) in Berlin angekommen. Er hat sein Gepäck verstaut und ist ein bißchen ins Leere gelaufen. Die Nacht zuvor hat er mal wieder nicht schlafen können. Das paßt irgendwie. Der Bahnhof ist noch der alte. Männer mit Wachmützenköpfen führen Hunde an einer kurzen Leine. Die Hunde tragen Maulkörbe. Man ist vorbereitet. Der Sackbahnhof ist so ungeıııütlich wie immer. Er wird im Osten erwartet. Morgen ist die große Demo, gegen Haß und Gewalt. Er denkt, daß Inge sich wundern wird, daß er in Berlin wäre. Also rief er sie an. Die Stimme hat er noch im Ohr: "Dmietmaaar!" Ein kurzes hin und her, sie waren verabredet. Sie hatte genug Platz, er konnte also bei ihr übernachten. Dann rief er die Leute im Osten an, daß er soeben angekommen war, aber heute doch in Berlin übernachte. Morgen, nach der Demo, werde er sie dann besuchen. Kein großes Trara.

Gegen 20-Uhr-30 ist er bei Inge angesagt. Er geht noch zu Bolle am Kuhdamm ( hieß der Laden noch so? ) und hat dort noch zwei trinkbare Mitbringsel eingekauft. Danach ging er zu Aschinger, gegen 18 Uhr. So wie Mitte der 60-er war es längst nicht mehr. Zuletzt war er 1988 in Berlin gewesen. Eine alte Frau schlurft langsam durch den Raum. Es ist zu der Zeit eher leer dort. Ihm war es lieber so -, so ruhig. Die alte Frau aber kommt ausgerechnet an seinen Tisch und fragt, ob sie sich zu ihm setzen dürfe. Er: "Aber gerne!" Alte Leute sind Menschenkenner. Warum wohl sonst ist sie an seinen Tisch gekommen? Nun, er freut sich jedenfalls. Ein paar freundlichere Momente hat er gerne für sie übrig. Sie sagt, daß "sie ab und an gerne eine Scheibe Kassler esse. Nur eine ganz dünne. Keine Schrippe, gar nichts dazu. Nur das kleine Stück Kassler, das esse sie besonders gern". Er lächelt sie an. Das Lächeln kommt aus seinem Herzen. Das spürt auch sie. Sie freut sich, daß sie nicht so allein an einem leeren Tisch sitzen muß. Ihm erging es ja ebenso. "Sie hat's nicht eilig, sie wohnt ganz alleine", sagt sie, "ihr Mann sei schon vor vielen Jahren gestorben". Nach 'ner Weile fragt er, "ob er ihr das Kassler holen solle?" Das Essen muß man selbst holen. Getränke werden extra gebracht.

Die alte Dame nickt dankend und zählt ihm ein paar Münzen auf den matt geschrubbten, stabilen Holztisch. "Ihr Geld reiche genau für eine dünne Scheibe vom Kassler, man könne es abwiegen lassen", sagt sie. Es ist nicht viel Geld. Sie ist genügsam. Er ließ ein dickeres Stück abwiegen, zahlte und stellt es ihr hin. Sie ist nicht erstaunt. Die Äuglein fangen an zu glänzen. Sie haben dann noch eine ganze Weile miteinander geredet. Über dies und das. Er hat nicht viel von sich reden wollen. Es war schöner, einfach nur zuhören zu können. Irgendwann hat er sich von ihr verabschiedet. Er hätte sich gerne noch etwas länger dem Zustand hingegeben, sich einfach treiben zu lassen. Denn während er ihr einfach nur zuhörte, die alte Dame ihm das Gefühl gab, ihr dadurch eine Freude zu bereiten, vielleicht überhaupt mal wieder in der Lage zu sein, daß jemand etwas Zeit für sie übrig habe, so dachte er später, solange wollte er gerne die eigenen Problemchen beiseite lassen -, sich und die Zeit vergessen.
Am 8.11.92 bricht er bei Inge auf. Er wollte zur Großdemo. Sie ist natürlich nicht mitgekommen. Schade. Wäre sicher sowohl schöner gewesen als auch, daß er weniger mit seiner Menschenmengeangst zu kämpfen gehabt hätte. Er hat sie dennoch nicht länger zu überreden versucht. Oder hatte er nur einer Nostalgie zuliebe, da er sich ohnehin meist ziemlich einsam und verloren fühlte, hatte er sie nur angerufen, sich erst im Moment spontan an sie erinnert, als er mit der Kälte des Berliner Bahnhofsvorplatzes konfrontiert worden war? Hat er doch im gleichen Moment gespürt, daß die Leute im Osten, die er besuchen wollte, ihm noch ganz fremd sind.

Ist er dann zum Wittenbergplatz oder zum Nollendorfplatz gefahren? Egal, er weiß es heute nicht mehr. Es geschah. Denn schon befand er sich mittendrin. Im Menschenstrom. Um sich nicht so fremd zu fühlen, ist er mal in dieser, mal in jener Gruppe mitgelaufen. Jede Gruppe trug irgendein Erkennungszeichen, meist mehrere Schilder und Transparente. Querbeet: altersmäßig, politisch, privat, multikultimäßig. Wenn er spürt, sich fremd zu fühlen, legt er den zweiten Gang ein. Er wird nicht der einzige gewesen sein, weiß er heute, der damals und überhaupt meistens alleine rumlief. Hier mal ein Wort, dort mal ein Blick. Warum auch reden? Er geht einfach mit. Ist dabei: Als Zeichensetzer. In der Nähe der Siegessäule stieß er auf eine Gruppe, die einigen Trommeln die phantastischsten Rhythmen entlockte; kraftvolle, starke und zugleich sehr feinstufige Rhythmen. Mehr als 100.000 Menschen sind dabei. Eine lange Menschenschlange, deren wirkliche Größe vom Dabeisein des Einzelnen abhängt. Kurz vor dem Brandenburger Tor wurde das Extrablatt einer Berliner zeitung DER TAGESSPIEGEL kostenlos verteilt. Er steckte es ein. Heute ist hier. Nur die Wirklichkeit aus erster Hand. Er unterhielt sich sogar inzwischen mit einem Menschen, der ebenso wie er allein dabei zu sein schien. Worüber haben sie geredet? Er hat es vergessen. Es war nur das Bedürfnis da, sich mitzuteilen, die Freude an solcher friedlichen Solidarität zum Ausdruck zu bringen. Es half ihm, sogar seine Menschenmengeangst zu überwinden. Ja, er hatte sich gut gehalten. Mutterseelenallein, in dieser enormen Menschenmenge. 1981 in Bonn, zur großen Friedensdemonstration, da war es ähnlich. Aber eben nur ähnlich. Friedensbewegt. Zudem war er damals nicht annähernd so allein wie Heute und Hier, in Berlin; zur Großdemonstration, am 8.11.1992, unter dem Motto: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Er ging durch das Brandenburger Tor. In den 60-er Jahren gab es für ihn nur den provisorischen Personalausweis. Nun war er zum ersten Mal durch das Brandenburger Tor gegangen. Nach der Öffnung der Mauer, nach der ersten Euphorie, die inzwischen allenfalls während der friedlichen Solidarität dieser Großdemonstration noch Gültigkeit besaß.

Damals waren solche wie ich, die wir aus der BRD nach Berlin umzogen, auch für die meisten Westberliner nicht willkommen, in Kauf genommene Fremdlinge, "Fremdarbeiter" hießen die damals. Nach dem Fall der Mauer geht er durchs Brandenburger Tor. Guckt hoch. Die Menschenmasse geht Richtung Lustgarten; der früher Karl-Marx-Platz hieß. Nu denn, Karl Marx ist längst vom Sockel geholt worden. Er will den Osten mal mit eijenen Ogen sehen. Als Zeuje der Zeit. Deshalb issa nach Berlin. Die Demo hatte sein Vorhaben spontan Wirklichkeit werden lassen. Noch ist er in der Menge. Unvermittelt wird det Jedränge imma enga: Am Lustjarten! Sackgasse! Nur nich drängeln. Mitschwimmen. Sich treiben lassen, ist im Strom bessa, als sich in Panik zu stürzen... Und urplötzlich ist nun überall um ihn herum nur noch eine amorphe Menschenmasse. Doch obschon ihn beizeiten sogar in einer Minigruppe diese - unerklärbare - Menschenmengeangst überfiel, blieb er seltsamerweise äußerst gelassen, ruhig. Nu ja keine Panik aufkommen lassen. Es könnte ja sein, daß einer oder viele am Ende der auslösende Faktor gewesen sein könnte. "Wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, an fernen Gestaden", ein unüberschaubares Chaos auszulösen imstande sei. * Real, situativ anwesend, hat er nur instinktiv erkannt, daß es besser sei, eine große Gelassenheit und Ruhe nach außen zu tragen. Der schon bald darauf einsetzenden Drängelei war ohnehin nur mittels einer sehr gezielten, aber langsamen Fortbewegung etwas entgegenzusetzen, um ihr zu entkommen. Als es ihm gelang, aus dem Stau unbeschadet herauszufinden, ohne daß er oder die Menschenmenge in Panik ausbrach, da fühlte er sich sonderbar euphorisch. Er suchte daraufhin sogar freiwillig wieder einzutauchen, in das Gefühl, mit dazu beigetragen zu haben: ein Zeichen zu setzen. Erst als er dann unmittelbar in Nähe der Bühne stand, wo, wie er dann erfuhr, der Bundespräsident ausgepfiffen, sogar mit Gewalt konfrontiert worden war, stellvertretend für den Staat und alle etablierten Sonntagsredner, da sah er schließlich doch noch mit eigenen Augen, wie es dazu kommt, daß man im Fernsehen meist nur negative Momente ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gestellt sieht. Er sah, wie eine manipulierte Fernsehberichterstattung zustande kommt.
* ZITAT ZUR CHAOSTHEORIE

Er sah selbst die an verschiedensten Standorten positionierten Augen der Kameras, sah die umherlaufenden Leute mit ihren Handkameras, sah immer mal wieder eine kleine Minderheit plötzlich wie eine Woge sich ausbreiten, vom Beweggrund des Protestes getrieben, verfolgt von brachialer Staatsgewalt. Er sah, entsetzt, wie schwer es beizeiten sein kann, mitten im ausbrechenden Chaos noch zu unterscheiden, wer dieses in Wirklichkeit ausgelöst und wer das ausufernde Chaos am Ende zu tragen, dessen Folgen zu verantworten habe. Chaoten und Staatsgewalt verschwammen im Schutz der Menge. Die Staatsgewalt schlug nicht zu. Zahlreiche Fernsehkameras surrten. Im Fernsehen aber war später nur vom Chaos die Rede. Wo gehört man wirklich dazu? Wo hält an sich selbst besser raus? Wann sieht und hört man genau hin? Großveranstaltungen sind ja erst ab einer gewissen Masse Mensch iiberhaupt als solche zu bezeichnen. Diese Demo beispielsweise. Das Versammlungsverbot ist nach solchen Kriterien aufgebaut, Vermummungsverbot. Woran sind Gleichgesinnte und Andersdenkende zu erkennen? An dem, was sie sagen oder was sie verschweigen wollen? Am Signalcharakter der Uniformierung, an den Klamotten? Schon wittere ich die Marke des Rudels. Veranstaltungen bringen erst durch die Abwesenheit noch größerer Menschenmengen zum Vorschein, daß sich die Masse nicht angesprochen fühlt. Im Vereinsleben erweist sich eine Breitenwirkung als Flop. Was wird in einem Karnevalsverein gefördert und gefordert? Was wird stillschweigend geduldet? Die Spitze des Eisbergs betreffend: Was verschwindet, analog dazu, im Grunde? Er ist gepolt - in Masse. Die Denkphysik betreffend, ist wo der Wurm drin? "Für et hätz un jäjen d'r Kopp", hatte es in Köln breitenwirksam geheißen. Es schien niemand zu stören, daB man kopflos handeln - sich einmischen solle. Wie das? Im ungeselligen Trott der Verkehrsformen aber verliert man sich in den Grauzonen. Ob in finsteren Gassen oder per KVB, am Pflasterstrand oder im Pauschalparadies: Radikale Gewalt gegen Andersdenkende findet oft feige, unbemerkt statt. Wo die Betroffenen alleingelassen sind, mit sich und den Mißverhältnissen - den Radikalen. An sozialen Rändern sind kaum jene anzutreffen, die auf der großen bühne "Arsch huh, Zäng ussenander" (9.11.1992) das legendäre konzerrt gege Rassismus und Gewalt gaben. betroffene fremdländer waren wohl nur wenige dabei, ob diese sich in dieser massenveranstaltung genauso euphorisch gefühlt haben, wie das begeisterte publikum?

ZEITSPRUNG Veranstaltung in der Kölner FLORA gegen Rassismus & Gewalt am 10.3.1993

Das Publikum drängte sich heute nicht massiv um die Bühne, es verlor sich in der Übermacht leer bleibender Stühle. Öffentlichkeit = Diskrepanz. Zwischen Bühne und Freiraum, viel Luft. Knapp vier, im Höchstfall fünf Dutzend Menschen waren zur Veranstaltung erschienen und verloren sich im Raum. Vom Veranstalter hätte man in Sachen Öffentlichkeit doch mehr Breitenwirkung erwartet - Firma Bertelsmann sponserte, Region Rheda-Wiedenbrück, wie er hinterher hat in Erfahrung bringen können. Zumindest war das Podium sehr prominent besetzt. Ganze neun Redner & Rednerinnen waren "Gegen Haß und Gewalt" angereist. Neun rede&schriftgewandte Persönlichkeiten fanden sich in der Flora ein. Zur Auflockerung sind fresh-family und 4-reeves auf kleiner Bühne da. Deren Auftritt wirkt allerdings mangels Masse, verglichen mit dem Spektakel am Chlodwigplatz, etwas deplaziert. Hier unterlag in der Tat alles nur dem Realitätsprinzip. Klaus Bednarz hat kurz geblickt und zu reden angefangen. Weiterhin: Günter Wallraff, Ron Williams, Jimmy Hartwig, Karin Boyd, Arzu Toker, Akif Piriçzi und Th. Michel(?), K.H.Pütz, letzterer tätig für AG-ARSCH-HUH und Chlodwig-Musik. Woran liegt es nur, frage ich mich wieder einmal mehr, daß ich selbst immer nur da bin, wo es nichts zu lachen gibt? Als am 9.11.1992 jenes Riesenspektakel am Chlodwigplatz über die Bühne ging, war ich am 8.11.1992 zur Großdemo in Berlin dabei gewesen. An beiden sehr unterschiedlichen Orten wurde versucht, der weitverbreiteten Sprachlosigkeit zum Thema Gewalt & Rassismus in Deutschland auf breiter Ebene ein kritisches Bewußtsein entgegenzusetzen, es war ein Anfang. Darüberhinaus zitiere ich Böll: "Was geschieht, muß privat geschehen." Doch nur an "et Hätz zo appelliere un jejen dr Kopp" - wat soll dat brenge? Daß mich der massiv kommerzielle AG-ARSCH-HUH-Effekt störte, lag daran, daß sich für diese Veranstaltung in der FLORA, am 10.3.1993 ( wegen des fehlenden Lustprinzips? ) kaum eine breite Öffentlichkeit interessierte. In der Flora wurden am Ende eiligst alle Türen weit aufgerissen. Und in nullkommanix war das Publikum verschwunden. Raus in die Grauzonen. Wo, wie, endete das Spektakel am Chlodwigplatz?

ÄSTHETIK DES SCHEITERNS - am rand der wörter ( aus buch 1, 288 Seiten, #s.93-94, 259-263 ) © dietmar wegewitz

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