berlin1992 |
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„die würde des menschen..."
BERLINdemo 7.-8.11.1992 |
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Am 7.11.1992 ist er um 16-Uhr-44(!)
in Berlin angekommen. Er hat sein Gepäck verstaut und ist ein bißchen
ins Leere gelaufen. Die Nacht zuvor hat er mal wieder nicht schlafen können.
Das paßt irgendwie. Der Bahnhof ist noch der alte. Männer mit Wachmützenköpfen
führen Hunde an einer kurzen Leine. Die Hunde tragen Maulkörbe. Man ist
vorbereitet. Der Sackbahnhof ist so ungeıııütlich wie immer. Er wird im
Osten erwartet. Morgen ist die große Demo, gegen Haß und Gewalt. Er denkt,
daß Inge sich wundern wird, daß er in Berlin wäre. Also rief er sie an.
Die Stimme hat er noch im Ohr: "Dmietmaaar!" Ein kurzes hin
und her, sie waren verabredet. Sie hatte genug Platz, er konnte also bei
ihr übernachten. Dann rief er die Leute im Osten an, daß er soeben angekommen
war, aber heute doch in Berlin übernachte. Morgen, nach der Demo, werde
er sie dann besuchen. Kein großes Trara. Damals waren solche wie ich, die wir
aus der BRD nach Berlin umzogen, auch für die meisten Westberliner nicht
willkommen, in Kauf genommene Fremdlinge, "Fremdarbeiter" hießen
die damals. Nach dem Fall der Mauer geht er durchs Brandenburger Tor.
Guckt hoch. Die Menschenmasse geht Richtung Lustgarten; der früher Karl-Marx-Platz
hieß. Nu denn, Karl Marx ist längst vom Sockel geholt worden. Er will
den Osten mal mit eijenen Ogen sehen. Als Zeuje der Zeit. Deshalb issa
nach Berlin. Die Demo hatte sein Vorhaben spontan Wirklichkeit werden
lassen. Noch ist er in der Menge. Unvermittelt wird det Jedränge imma
enga: Am Lustjarten! Sackgasse! Nur nich drängeln. Mitschwimmen. Sich
treiben lassen, ist im Strom bessa, als sich in Panik zu stürzen... Und
urplötzlich ist nun überall um ihn herum nur noch eine amorphe Menschenmasse.
Doch obschon ihn beizeiten sogar in einer Minigruppe diese - unerklärbare
- Menschenmengeangst überfiel, blieb er seltsamerweise äußerst gelassen,
ruhig. Nu ja keine Panik aufkommen lassen. Es könnte ja sein, daß einer
oder viele am Ende der auslösende Faktor gewesen sein könnte. "Wie
der Flügelschlag eines Schmetterlings, an fernen Gestaden", ein unüberschaubares
Chaos auszulösen imstande sei. * Real, situativ anwesend, hat er nur instinktiv
erkannt, daß es besser sei, eine große Gelassenheit und Ruhe nach außen
zu tragen. Der schon bald darauf einsetzenden Drängelei war ohnehin nur
mittels einer sehr gezielten, aber langsamen Fortbewegung etwas entgegenzusetzen,
um ihr zu entkommen. Als es ihm gelang, aus dem Stau unbeschadet herauszufinden,
ohne daß er oder die Menschenmenge in Panik ausbrach, da fühlte er sich
sonderbar euphorisch. Er suchte daraufhin sogar freiwillig wieder einzutauchen,
in das Gefühl, mit dazu beigetragen zu haben: ein Zeichen zu setzen. Erst
als er dann unmittelbar in Nähe der Bühne stand, wo, wie er dann erfuhr,
der Bundespräsident ausgepfiffen, sogar mit Gewalt konfrontiert worden
war, stellvertretend für den Staat und alle etablierten Sonntagsredner,
da sah er schließlich doch noch mit eigenen Augen, wie es dazu kommt,
daß man im Fernsehen meist nur negative Momente ins Rampenlicht der Öffentlichkeit
gestellt sieht. Er sah, wie eine manipulierte Fernsehberichterstattung
zustande kommt. Er sah selbst die an verschiedensten Standorten positionierten Augen der Kameras, sah die umherlaufenden Leute mit ihren Handkameras, sah immer mal wieder eine kleine Minderheit plötzlich wie eine Woge sich ausbreiten, vom Beweggrund des Protestes getrieben, verfolgt von brachialer Staatsgewalt. Er sah, entsetzt, wie schwer es beizeiten sein kann, mitten im ausbrechenden Chaos noch zu unterscheiden, wer dieses in Wirklichkeit ausgelöst und wer das ausufernde Chaos am Ende zu tragen, dessen Folgen zu verantworten habe. Chaoten und Staatsgewalt verschwammen im Schutz der Menge. Die Staatsgewalt schlug nicht zu. Zahlreiche Fernsehkameras surrten. Im Fernsehen aber war später nur vom Chaos die Rede. Wo gehört man wirklich dazu? Wo hält an sich selbst besser raus? Wann sieht und hört man genau hin? Großveranstaltungen sind ja erst ab einer gewissen Masse Mensch iiberhaupt als solche zu bezeichnen. Diese Demo beispielsweise. Das Versammlungsverbot ist nach solchen Kriterien aufgebaut, Vermummungsverbot. Woran sind Gleichgesinnte und Andersdenkende zu erkennen? An dem, was sie sagen oder was sie verschweigen wollen? Am Signalcharakter der Uniformierung, an den Klamotten? Schon wittere ich die Marke des Rudels. Veranstaltungen bringen erst durch die Abwesenheit noch größerer Menschenmengen zum Vorschein, daß sich die Masse nicht angesprochen fühlt. Im Vereinsleben erweist sich eine Breitenwirkung als Flop. Was wird in einem Karnevalsverein gefördert und gefordert? Was wird stillschweigend geduldet? Die Spitze des Eisbergs betreffend: Was verschwindet, analog dazu, im Grunde? Er ist gepolt - in Masse. Die Denkphysik betreffend, ist wo der Wurm drin? "Für et hätz un jäjen d'r Kopp", hatte es in Köln breitenwirksam geheißen. Es schien niemand zu stören, daB man kopflos handeln - sich einmischen solle. Wie das? Im ungeselligen Trott der Verkehrsformen aber verliert man sich in den Grauzonen. Ob in finsteren Gassen oder per KVB, am Pflasterstrand oder im Pauschalparadies: Radikale Gewalt gegen Andersdenkende findet oft feige, unbemerkt statt. Wo die Betroffenen alleingelassen sind, mit sich und den Mißverhältnissen - den Radikalen. An sozialen Rändern sind kaum jene anzutreffen, die auf der großen bühne "Arsch huh, Zäng ussenander" (9.11.1992) das legendäre konzerrt gege Rassismus und Gewalt gaben. betroffene fremdländer waren wohl nur wenige dabei, ob diese sich in dieser massenveranstaltung genauso euphorisch gefühlt haben, wie das begeisterte publikum? ZEITSPRUNG Veranstaltung in der Kölner FLORA gegen Rassismus & Gewalt am 10.3.1993 Das Publikum drängte sich heute nicht massiv um die Bühne, es verlor sich in der Übermacht leer bleibender Stühle. Öffentlichkeit = Diskrepanz. Zwischen Bühne und Freiraum, viel Luft. Knapp vier, im Höchstfall fünf Dutzend Menschen waren zur Veranstaltung erschienen und verloren sich im Raum. Vom Veranstalter hätte man in Sachen Öffentlichkeit doch mehr Breitenwirkung erwartet - Firma Bertelsmann sponserte, Region Rheda-Wiedenbrück, wie er hinterher hat in Erfahrung bringen können. Zumindest war das Podium sehr prominent besetzt. Ganze neun Redner & Rednerinnen waren "Gegen Haß und Gewalt" angereist. Neun rede&schriftgewandte Persönlichkeiten fanden sich in der Flora ein. Zur Auflockerung sind fresh-family und 4-reeves auf kleiner Bühne da. Deren Auftritt wirkt allerdings mangels Masse, verglichen mit dem Spektakel am Chlodwigplatz, etwas deplaziert. Hier unterlag in der Tat alles nur dem Realitätsprinzip. Klaus Bednarz hat kurz geblickt und zu reden angefangen. Weiterhin: Günter Wallraff, Ron Williams, Jimmy Hartwig, Karin Boyd, Arzu Toker, Akif Piriçzi und Th. Michel(?), K.H.Pütz, letzterer tätig für AG-ARSCH-HUH und Chlodwig-Musik. Woran liegt es nur, frage ich mich wieder einmal mehr, daß ich selbst immer nur da bin, wo es nichts zu lachen gibt? Als am 9.11.1992 jenes Riesenspektakel am Chlodwigplatz über die Bühne ging, war ich am 8.11.1992 zur Großdemo in Berlin dabei gewesen. An beiden sehr unterschiedlichen Orten wurde versucht, der weitverbreiteten Sprachlosigkeit zum Thema Gewalt & Rassismus in Deutschland auf breiter Ebene ein kritisches Bewußtsein entgegenzusetzen, es war ein Anfang. Darüberhinaus zitiere ich Böll: "Was geschieht, muß privat geschehen." Doch nur an "et Hätz zo appelliere un jejen dr Kopp" - wat soll dat brenge? Daß mich der massiv kommerzielle AG-ARSCH-HUH-Effekt störte, lag daran, daß sich für diese Veranstaltung in der FLORA, am 10.3.1993 ( wegen des fehlenden Lustprinzips? ) kaum eine breite Öffentlichkeit interessierte. In der Flora wurden am Ende eiligst alle Türen weit aufgerissen. Und in nullkommanix war das Publikum verschwunden. Raus in die Grauzonen. Wo, wie, endete das Spektakel am Chlodwigplatz? ÄSTHETIK DES SCHEITERNS - am rand der wörter ( aus buch 1, 288 Seiten, #s.93-94, 259-263 ) © dietmar wegewitz • WEITER MIT HUMOR |
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