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text-fragmente dietmar wegewitz |
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PHÄNOMENOLOGIE DER WAHRNEHMUNG #A ohne die fünf sinne keine sinnliche erfahrung. ohne diese oder jene erfahrung macht das was man anschauen kann gar keinen sinn. der blinde ohne blindenstock könnte dem lahmen ein gehilfe sein. der lahme wiederum dürfte dem blinden die sichtbare welt zeigen. was, wenn beide einem tauben über den weg liefen, der soeben in der betrachtung eines abgrundes versunken sei? somit sähe der taube die beiden trotz augenlicht nicht kommen; er könne den blinden und den lahmen nur wahrnehmen, wenn er selbst mit seinem rücken zum abgrund stünde, sich abwende, von seinem vorhaben; erst dann sähe er, was er nicht kommen hören kann. der blinde wisse nicht, daß dort dieser abgrund sei. er wisse nicht, daß der lahme, der ihn führe, jenen abgrund nicht kenne. da der lahme sich ganz auf den blinden stütze und der blinde der aufmerksamkeit des lahmen vertraue, gälte beider aufmerksamkeit einzig der schrittweisen fortbewegung. der vorteil des blinden sei, daß er sich auch ohne den lahmen bewegen könne, denn wäre er allein auf sich selbst gestellt, gäbe es den blindenstock, mit dessen hilfe er sich orientiere. falls ein hindernis nahe, bemerke er es, falls ein anderer mensch sich nähere, könne er diesen dank des ausgeprägten gehörsinns schon sehr früh bemerken, ja oft weitaus früher als den normal sehenden leitet ihn die innere stimme und die erfahrung. nun sind der lahme und der blinde in ein gespräch verstrickt. so gehen sie geradewegs auf den abgrund zu. der taube hört weder, noch sieht er sie kommen. selbst wenn der taube sich abwende vom abgrund, vermag er doch nicht sie zu warnen. falls er wild gestikuliere, in gebärdensprache rede, kann doch der blinde ihn nicht sehen. und der lahme sieht nicht hin, da er nur auf den boden achte, um den blinden nicht über eines der hindernisse zu führen - und sei es ein kleiner stolperstein. der taube ist auch stumm. als er sich just in den abgrund wirft, da schreit alles in ihm... #B als letzte hoffnung bestünde wohl noch die möglichkeit, daß entweder der blinde oder der lahme den abgrund kenne. die
nutzbarkeit der erfahrung wäre in diesem fiktiven fall konkret überlebenswichtig.
der gehörlose sei ja mehr oder weniger freiwillig in diesen abgrund gesprungen.
käme der blinde mit dem lahmen am abgrund ins straucheln, so werde er
den lahmen mit in den abgrund reißen. sähe der lahme den abgrund erst
im letzten moment, so wüßte er doch nicht die balance zu halten, da er
sich auf den blinden stütze und der blinde wahrscheinlich vorausgehe und
sich mit den augen des lahmen fortbewege, zumal der lahme vorausgehend
sich nicht gut stützen und zugleich vorausschauen könne. die sicht des
lahmen sei jedoch durch den vorausgehenden blinden stark eingeschränkt,
zumal, wo er den körperkontakt zum blinden dringend benötige, so werde
er den abgrund viel zu spät sehen. daß er den abgrund überhaupt sehe,
vielleicht sogar sekundenbruchteile bevor der blinde schon zu weit gegangen
sei und ins fallen komme, das sei besonders tragisch. denn im gleichen
augenblick wisse er, was komme, daß er gar keine chance mehr habe. diesen
sturz zu überleben. der blinde stürze wohl in ein ungewisses, wisse er
doch nicht, wie tief er fallen, daß er sterben werde. der lahme jedoch
sehe genau, daß sein letztes sekündlein geschlagen habe. er wisse, daß
er schuldig sei am tod des blinden. doch wahrscheinlich sind die gedanken
in diesem freien fall kein maßstab dafür, ob die gewißheit des todes diese
oder jene bilderstürme in einem kopf, in einer seele aufsteigen ließe.
dieser blinde habe immerhin den vorteil, noch die hoffnung zu haben, daß
er mit ein paar schrammen davonkäme, daß er nicht so tief falle, daß unten
ein gewässer sei. daß er in den wipfeln eines baumes lande, mit ein paar
knochenbrüchen davonkäme. der blinde falle, der lahme auch. der blinde
wisse nicht wohin. wäre der abgrund nicht allzu tief - und er überlebe
diesen sturz -, wäre es eine ironie des schicksals, diesen lahmen gestützt
zu haben. da der blinde nicht nur blind, sondern vielleicht auch gelähmt
sei. wobei der lahme sich vorher immerhin mit einer gehhilfe noch bewegen
konnte, mittels stock oder eines menschen. der blinde und der lahme wären
nicht tot, wenn der blinde dem lahmen nicht begegnet wäre. TRAGISCH! |
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