I.
Teil
Ohne freie Presse gibt es keine
Demokratie. Dort, wo Zeitungen bedrängt,
zensiert, verboten sind, dort wo
Journalisten eingeschüchtert,
vorgeladen oder durch nie aufgeklärte
Straftaten ums Leben gebracht werden,
dort kann Demokratie nicht gedeihen.
Warum eigentlich ist das so? Das
antike Griechenland hat doch schließlich
die Demokratie erfunden, ohne dass
in Athen Zeitungsverkäufer
standen. Wer in Volksversammlungen
von 6000 Menschen direkt das Schicksal
der res publica bestimmt, braucht
keine gedruckte öffentliche
Meinung.
Doch die Neuzeit verfährt differenzierter,
schon weil im Mutterland der liberalen
Demokratie, in England, keine Volksversammlungen
als Ekklesia möglich waren.
Hier ging es darum, eine bürgerliche
Gegenmacht zu der mit dem Absolutismus
liebäugelnden Krone zu etablieren
und dem Parlament und den in ihm
ringenden Kräften eine Stimme
zu verleihen. Die moderne Presse
ist insofern ein Ergebnis der Glorreichen
Revolution des 17. Jahrhunderts
und der mit ihr de facto eingeführten
parlamentarisch verantwortlichen
Regierung.
Im Übergang zum Jahrhundert
der Aufklärung entsteht dann
die Vorstellung, dass ein bürgerliches
Publikum, das in Handel, Handwerk,
Landwirtschaft zu Besitz gelangt
ist und Träger der Bildung
wird, seine Meinung als Ergebnis
freier Diskussion und vernünftigen
Argumentierens als politisch bedeutsamer
Faktor zum Ausdruck bringt: in Zeitungen,
die kühle Nachrichten und kritische
Sachkommentare verbinden, die aber
auch mit Polemik und Demagogie zu
gefürchteten Mitspielern des
politischen Prozesses werden. Die
public opinion wird zu einer festen
Größe im politischen
Entscheidungsprozess, sie wird im
Grunde Teil des politischen Herrschaftssystems,
aber in besonderer Verbindung zu
wirtschaftlichem Renditeinteresse,
wissenschaftlichem Wahrheitsstreben,
ethischer Orientierung und nicht
zuletzt lebenspraktischen Einstellungen
der Leser.
Die ernsthafte Presse sieht sich
als unabhängiger Teil des politischen
Prozesses, so wie Richter sich als
unabhängige dritte Gewalt im
Staat verstehen. Beide Gewalten
handeln und urteilen im Namen des
Volkes, beide kontrollieren die
zur Gestaltung berufenen politischen
Kräfte der Legislative und
der Exekutive.
In dieser Zeit knapp vor der Französischen
Revolution entsteht der Beruf des
Journalisten, der sich, fachlich
versiert und vom Ethos des Aufklärers
beseelt, als Auge, Ohr und Mund
einer Öffentlichkeit versteht,
die aus der privaten Lebenswelt
heraus ihre Vernunftmaßstäbe
findet. Die Symbiose eines Verlegertypus,
der Geschäftsinteresse und
öffentliche Wirkung in den
Mittelpunkt rückt, und der
Journalisten, denen es weniger um
Rendite, sondern um die öffentliche
Rolle der Presse geht, um Beobachten,
Berichten und Aufklären: Beides
verschmilzt zu dem, was man zuerst
in England „fourth Estate“,
vierte Gewalt, nannte.
II. Teil
Unsere Vorstellung geht heute dahin,
dass alles politisch Bedeutsame
in Nachrichten, Tageszeitungen und
politischen Magazinen transparent
wird. Die Presse ist die Metaebene
des politischen Prozesses, eine
Reflexionsinstanz, in der Politik
für den Bürger - und auch
für viele Politiker - überhaupt
erst ihre Einheit, ihre wahrnehmbare
Gestalt findet. Das politische Geschehen,
also die Gesetzgebung, die Ämtervergabe,
Verwaltungsentscheidungen, wären
für den Bürger in ihrer
Komplexität ohne Presse und
Rundfunk, ohne journalistische Aufbereitung
und Systematisierung schlechterdings
nicht zu verstehen, nicht als irgendwie
geordnete Einheit erlebbar.
Wer einmal versucht, unter den Bedingungen
völliger Transparenz, in die
Materialien und Verhandlungsprotokolle
von Stadträten, des Bundestages
oder Landtagen, des Europarlaments,
die Dokumente der Europäischen
Kommission oder Protokolle von Kabinettssitzungen
hineinzuschauen, um sich ein Bild
aus erster Hand zu machen, wird
auch als Experte erschlagen von
der Komplexität einer verrechtlichten
Gesellschaft und einer verschachtelten
Mehrebenendemokratie. Schon die
kommunale Bauleitplanung, erst recht
aber Gesetze zur Jugendhilfe, zur
Umwandlungssteuer oder der Finanzmarktaufsicht,
zur europäischen Agrar- oder
Wettbewerbsordnung, all das ist
Sache für Experten oder für
speziell Betroffene und ihre Verbände.
Komplexe Realität muss radikal
vereinfacht, muss übersetzt
werden. Das tatsächliche Geschehen
so abzubilden, dass es bekömmlich,
anschlussfähig ist: Dazu bedarf
es einer radikalen Vereinfachung,
es bedarf der Übersetzung.
Die Presse wählt aus, was ihr
wichtig ist; damit konstituiert
sie geradezu das politische Zentrum
der Demokratie, weil dasjenige für
alle von öffentlichem Interesse
wird, was für Presse und Rundfunk
von öffentlichem Interesse
ist.
Natürlich weiß jeder
Politiker, dass die meisten Sach-
und Personalentscheidungen - man
übertreibt kaum zu sagen, fast
alle - ohne größere öffentliche
Diskussion und sogar ohne jede öffentliche
Wahrnehmung über die Bühne
von Gesetzgebung und Verwaltung
gehen. Den meisten ist das ganz
recht, man kann sachlich arbeiten
und wird nicht durch aufgeregte,
wenig informierte Debatten behelligt.
Der
Pulsschlag der Ministerialverwaltung
steigt allerdings immer dann an,
wenn ein Thema als politisch oder
hochpolitisch gilt, und das sind
diejenigen Themen, die öffentliche
Resonanz, gute oder schlechte Presse
erzeugen können.
Kritische und wachsame Medien dämpfen
die Hybris der Macht
Natürlich versucht jeder die
Presse und ihre Nachrichtenauswahl,
ihre Meinungsrichtung zu lenken,
zu inspirieren, für seine Zwecke
dienstbar zu machen. Schon Bismarck
bezahlte Journalisten, was übrigens
für das Vorhandensein prinzipieller
Pressefreiheit im Kaiserreich spricht,
denn Diktaturen haben so etwas nicht
nötig. Wer Presseerklärungen
abgibt, mit Journalisten redet,
sich interviewen und ablichten lässt,
will sich öffentlich darstellen,
um in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit
zu gelangen, von seiner Sicht andere
überzeugen oder auch negativ
wirkender Aufmerksamkeit etwas entgegensetzen.
Die Presse in einer Demokratie kann
niemand lenken, wohl aber beeinflussen.
Und das gilt auch nur, wenn man
ein paar Funktionsbedingungen der
öffentlichen Berichterstattung
kennt. Eine dieser Bedingungen ist,
dass jeden Tag etwas Neues in der
Zeitung, jede Woche eine aufklärende
Nachricht in einem Nachrichtenmagazin
stehen muss. Die Leser wollen nicht
nur informiert und beteiligt sein,
sie lieben auch den Kitzel des Unerwarteten,
wollen Stoff, über den zu reden
sich lohnt. Die häufig zu hörende
Klage, dass die Presse lieber über
Krisen, Kriege, Katastrophen spricht
als über die Ästhetik
des Alltags und die Idyllen der
Normalität, verkennt nicht
nur die Funktionsbedingungen der
Presse, sondern vor allem die Bedürfnisse
der Konsumenten.
Presse und Rundfunk brauchen Ereignisse
und keine langatmigen Erklärungen.
Dramaturgie ist wichtig. Einen Politiker
in den Himmel zu loben und ihn raketengleich
aufsteigen zu lassen, ist lohnend,
aber ist es nicht auch immer wieder
schön, ihn dann stürzen
zu sehen? Wird die Alltagswelt,
die sich selbst als Plackerei erfährt,
durch das Scheitern des Außergewöhnlichen
nicht immer wieder auch indirekt
bestätigt und belebt?
Man merkt, dass die vierte Gewalt
nicht einfach nur ein Gegengewicht
im politischen Geschehen ist, sondern
eine eigene Arena, auch der Emotion,
der Kampagne, der Ignoranz sein
kann, auch Presse ist eben menschlich.
Wenn die Boulevardpresse also über
die Stränge schlägt, was
besonders dem Mutterland der Pressefreiheit
nachgesagt wird, oder der Unterhaltungswert
zum eigentlichen Leitwert der Berichterstattung
gerät, sollte man nicht verzagen:
Es war noch nie anders und kann
unter den Bedingungen der Freiheit
auch kaum anders sein.
Das Nörgeln an der „ver“öffentlichten
Meinung, die die wahre Sicht der
Dinge nicht wiedergibt - welche
andere als die selektive könnte
es denn als öffentliche Meinung
wohl geben? - ist ebenso naiv wie
das Klagen über den Verfall
der guten Sitten durch das Zerstörungswerk
der Medien. Die Bürger in einer
Demokratie haben eben häufig
genau die Zeitungen und Fernsehprogramme,
die sie verdienen. Wenn das Publikum
durch politischen Streit sich allzu
schnell irritiert fühlt, wird
es eine flaue, aber magenfreundliche
Konsenssoße mehr lieben und
honorieren als deftig gewürzte
Debatten über Grundsatzfragen
der Republik.
Wer als Regierungssprecher oder
als Unternehmenssprecherin die Presse
beeinflussen will, bekommt es mit
Journalisten zu tun, die recht eigenwillige
Rezipienten sind, mit schneller
Auffassungsgabe und mit einem weiten
Horizont von Vergleichsmöglichkeiten,
aber auch mit ihren akademischen
Denkmustern der letzten Jahrzehnte
und dem Profilierungsdruck, der
auf ihnen lastet. Die Ausbildung
von Journalisten, ihre Fähigkeit,
komplexe Sachverhalte analytisch
schnell zu durchschauen und gründlich
zu recherchieren, Ergebnisse kritisch,
aber fair zu befragen, sind nicht
nur ein Herzstück, eine Bedingung
der Pressefreiheit, sie sind auch
ein tragendes Fundament der Demokratie.
Die bloße Möglichkeit,
dass ein Sachverhalt, eine Amtsführung,
persönliches Verhalten von
Inhabern öffentlicher Ämter
jederzeit zum Gegenstand einer Presserecherche
werden kann: Das diszipliniert ungemein,
es dämpft die Hybris der Macht,
lässt Hinterzimmergeschäfte
zu riskanten Angelegenheiten werden.
Diese wohltuende, diese unentbehrliche
Wirkung von Presse und Rundfunk
muss allerdings verantwortungsbewusst
und kompetent eingesetzt werden.
Es gab in der Vergangenheit Fälle,
da ließen sich Journalisten
durch gezielte Informationen und
deren unkritische Übernahme
zu willigen Werkzeugen des politischen
Konkurrenten oder gar von Diktaturen
machen, die Rede ist von einem alles
andere als transparenten Kampagnenjournalismus,
und das womöglich fremdgesteuert;
die Stasi-Akten haben hier einiges
zu Tage gefördert.
Und
auch hier muss das Publikum sich
fragen lassen, was es eigentlich
lesen, sehen und hören will...
( absatz gekürzt ).
Wer auch die Medien einmal kritisch
beobachtet, wird feststellen wie
leicht sie Moden hinterherlaufen
oder sie manchmal auch kreieren.
Vorgestern wurden Unternehmenslenker
hymnisch gelobt, die ein Automobilunternehmen
unter dem Begriff Diversifizierung
zu einem unrentablen Gemischtwarenladen
gemacht hatten, gestern waren es
die Helden, die Welt-AGs schmiedeten
und Wachstum durch Unternehmensübernahmen
als die einzige Überlebensstrategie
in der globalisierten Wirtschaft
propagierten und dabei vor allem
Milliarden privaten Kapitals versenkten.
Man sollte nicht vergessen, dass
solche wenig kritischen Modeszenarien
immer auch die vielen Vernünftigen,
die kühl wägenden Rationalisten
unter Druck setzen, wer will sich
schon mit Krediten für mittelständische
Wirtschaft herumplacken, wenn der
Zauber des Investmentbanking lockt.
Aber der letzte Hinweis sollte auch
zugleich zur Mäßigung
an der Medienkritik mahnen. Denn
die Entwicklung von Finanzdienstleistungen
hat nur wenig mit medialer Darstellung,
aber sehr viel mit wirtschaftlichen
Anreizen und objektiven Zwängen
einer Wachstumswirtschaft zu tun,
wobei die Presse nun wahrlich nicht,
oder jedenfalls nicht unmittelbar
den Takt vorgibt.
III. Teil
Es wäre eben zu einfach, die
Kritik an der Presse zu überzeichnen
oder mit leichter Hand umzudrehen
und in eine Publikumskritik zu wenden.
Denn man kann auch eine gewisse
Veränderung, eine Auszehrung
als inhärentes Problem sowohl
unternehmerisch geführter Medien
wie auch des öffentlich-rechtlichen
Rundfunks beobachten. Vielleicht
werden einfach die Wettbewerbsbedingungen
härter, vielleicht auch halten
die Journalisten nicht immer Schritt
mit der Dynamik einer schwer verständlichen
Gesellschaftsarchitektur.
Schon Niklas Luhmann hat nicht ohne
Ironie darauf hingewiesen, dass
alles, was wir wissen, aus den Massenmedien
stammt und die Medien sich eigentlich
vor allem selbst beobachten. Dahinter
steht gar nicht so sehr die wenig
schmeichelhafte Unterstellung, dass
Zeitungen nur voneinander abschreiben,
aber Nachrichtenredaktionen des
Fernsehens schauen (trotz Korrespondentennetz
und Nachrichtenagenturen) jedenfalls
auch in den „Spiegel“
oder die „Frankfurter Allgemeine“,
deren Redakteure wiederum lesen,
was die „Süddeutsche“,
der „Focus“ oder die
„Bildzeitung“ schreiben.
Wenn ein Thema zum Thema wird, weil
alle darüber berichten, kann
man und muss man bis hinab in den
letzten Winkel der Republik nachziehen,
weil die öffentliche Relevanz
jetzt feststeht. Dabei kann sich
jede Zeitung positionieren, sie
kann auch das Gegenteil der Hauptströmung
richtig finden, eine neue moralische
Qualität entdecken, etwas zur
Sache nachliefern, was andere noch
nicht gesehen haben. Dabei wird
mehr unbewusst als planmäßig
eine Welt konstruiert, die sich
uns als Abbild der wahren Welt buchstäblich
verkauft.
Lokaljournalisten müssen um
ihre Unabhängigkeit täglich
neu streiten.
Ob solche konstruktivistischen Annahmen
richtig sind, wissen Insider wahrscheinlich
besser, aber wenn wenigstens ein
Stück davon wahr wäre,
bestünde dann nicht die Gefahr,
dass der professionelle Journalismus
sein Ziel verfehlt, wenn er mit
alten Schablonen die Welt sieht,
zu schnell moralisiert, weil es
an näherer Information und
tief greifendem Verständnis
fehlt, er zu schnell, zu selbstbezüglich
und zu sehr politisch festgelegt
schreibt?
Unter dem Druck der Aktualitätsprämisse
bleibt häufig keine Zeit, die
lebensweltliche Verankerung schwindet,
weil hektischer Hauptstadtjournalismus
zwar Zutritt zur Kunstwelt von Prominenz
und Avantgarde öffnet, aber
die Wege privater Bodenhaftung und
Alltagserfahrung nicht selten hinter
der Hast von Schnelllebigkeit und
Illusionen der eigenen Bedeutung
enger werden. Solche Bodenhaftung,
die manchmal den Hauptstadtredaktionen
und großen Persönlichkeiten
der schreibenden und berichtenden
Zunft zu fehlen scheint, hat der
Lokaljournalismus gewiss. Aber dafür
wird er fast unweigerlich Bestandteil
eines sozialen Netzwerks kommunaler
und regionaler Machtfaktoren. Wer
Lokalberichterstattung verantwortet,
wird um seine persönliche Ambition
und Unabhängigkeit gegen den
Sog der Nähe und Interessenverknüpfung
täglich neu streiten müssen.
Dokumentation der Rede des Bundesverfassungsrichters
Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio.
Ohne freie Presse gibt es keine
Demokratie
Quelle: solinger-tageblatt.de vom
21.12.2009