DIE WEGE - E N T S C H L U S S - E N
T S C H L Ü S S E L U N G
"alles was ich besitze, trage ich bei mir."
zwar hinke er diesem ideal philosophischer bedürfnislosigkeit schon
seit vielen jahren hinterher, doch sei er ja noch auf dem wege.
gefundene fotos: 1-4 väterlicherseits,
5-9 mütterlicherseits, 7 mutter, 9 als kind vor der amputation
nach dem tod der mutter fand er die kleine mappe, mit
fotos und papieren. einige fotos kannte er. doch da waren viele, von denen
er keine ahnung hatte. kinderfotos gab es, sowohl von seiner mutter als
auch vom vater, dem erzeuger. fotos auch aus der zeit, da sie und sein
vater sich begegnet sein müssen. ein foto, kurz bevor der mutter
ein bein amputiert wurde; dieses foto habe sie ihm jedoch sehr oft gezeigt.
auch mehrere sehr alte fotos waren dabei, ihre und seine verwandtschaft
abbildend, den vater und die mutter als kind zeigend. zudem waren auf
einigen alten lichtbildern sogar die urgroßeltern zu sehen. und
sogar eine alte fotopostkarte war dabei, vom großvater, mütterlicherseits,
als dieser im lazarett gelegen hatte und von der kriegsfront im ersten
weltkrieg ein paar lapidare grüße übermittelt hatte.
ein jagdaufseher war dabei, mütterlicherseits. bürgertum, kaufleute
und binnenschiffer, väterlicherseits. korbmacher gab es sogar. so
eine art fahrendes volk in der entfernten verwandtschaft gehabt zu haben,
übertrug er in das rastlose gefühl, als er die kleine vergilbte
plastikmappe mit fotos und einigen zerfledderten papieren im nachlaß
seiner mutter fand. diese vergilbten dokumente holte er manchmal hervor,
wenn ihn dieses gefühl der unzugehörigkeit zu sehr plagte.
nur ein einziger brief des im krieg gefallenen bruders der mutter war
auch dabei und mehrere amtliche schriftstücke. diese art nachlaß
sollte erst viele jahre nach der mutter tod eine größere bedeutung
bekommen, da sich überhaupt nur anhand dieser dokumente ein verwandtschaftlicher
bezug herstellen ließ. es waren mehrere uralte geburtsnachweise
dabei, teilweise mitsamt reichsadler abgestempelte beglaubigungen. und
sogar ein paar amtliche kopien, auf sehr dünnem papier, seinen erzeuger
betreffend.
seine mutter hatte nur wenige lose blätter aufbewahrt. was natürlich
auch heißen kann, mehr habe es niemals gegeben. einige fast verwitterte
dokumente gaben annähernd auskunft darüber, wer mit wem - wie
- verwandt war. für ihn eine fremde welt. familien, die er allesamt
niemals kennenlernen konnte. da sie nie in erscheinung getreten waren.
geisterhaft erstand vor seinen augen ein diffuses bildnis. dieser oder
jener mensch hätte ihm die vergebliche suche nach zugehörigkeit
ersparen können. wie kam es zu dieser totalen kontaktlosigkeit?
gefunden u.a. auch feldpost aus russland, datum 22.
2. 1944
und vom N.S.V. = mütterheim Unterach/Attersee, Österreich
hier soll nun vom vaterbild die rede sein. er kannte seinen vater nur
vom hörensagen, es war unmöglich, sich mit dem zu identifizieren.
die materielle not war ja noch zu bewältigen. doch wie damit leben?
das problem war die mutter! sein vater ein hirngespinst. nicht nur der,
in seiner mutter weltbild waren einfach zuviele menschen schlecht und
bösartig. nein, das sollte man kindern nicht unentwegt antun. das
sei gar nicht gut fürs gemeinschaftsgefühl, fürs zugehörigkeitsgefühl
- für den aufbau einer persönlichen identität. solche sei
ihm nicht mit der geburt in die wiege gelegt worden. ja nicht mal eine
liebe zwischen bruder und schwester habe die mutter den kindern ermöglicht.
anzunehmen, daß seine schwester, als sie mit dreiundeinhalb jahren
ein brüderchen sah, nicht sehr erfreut war. da seine mutter sie darauf
sicher nicht vorbereitete. entstehe doch in dieser frühesten phase
die prägende geschwisterbeziehung; und die problematik, falls das
ältere geschwister sich urplötzlich völlig verändert
behandelt sieht.
seine schwester habe - auch seiner mutter gegenüber - keine anzeichen
von gefühlen zeigen können. zumindest habe er bei der schwester
kaum jemals auch nur die allergeringste emotionale regung bemerkt, auch
in extremsten situationen nicht, ja sogar dann nicht, als die mutter beerdigt
wurde. die absurde, äußerlich emotionslose trauerzeremonie
hat er lange vergeblich zu verdrängen versucht. damals war er sogar
erleichtert gewesen, als die mutter nach einem unfall nicht mehr aus ihrem
koma erwachte.
seine schwester lebte zeitlebens wie ein schatten mit der mutter zusammen,
sie hatte niemals freunde. und er erinnere sich nicht, daß die schwester
jemals mit ihm gespielt hätte. dabei erinnere er andere erlebnisse
nach vielen jahren wieder überaus klar und deutlich.
sie sind sich also zeitlebens fremd geblieben. ein rätselhafter nebel.
in all seinen frühesten erinnerungen ist seine schwester wie ausgelöscht.
bis auf eine einzige situation, die mit der katze, wo er die schwester
überhaupt mal ganz bewußt und nahezu körperlich greifbar
erinnere.
( * DIE
KATZE ).
im jahre ( ausgeblendet ) fühlte er sich getrieben, endlich den mut
zu fassen, sich aufzumachen, um wenigstens einen teil seiner unzugehörigkeit
zu erforschen. er tat dies und tue es noch, vermittels endloser sätze,
deren fatale sinnlosigkeit wohl verstört. er versank im treibsand
verlorener motivation.
seine aktivität reduzierte sich auf das rollen der augen und damit
verbundener erschöpfungszustände der seelischen bekanntheitsgrade.
er trieb den teufel mit dem beelzebub aus. das monologisierende trauma
des wiederholungszwangs verbannte er zu jener zeit buchstäblich in
den keller. er hielt es aus, immerhin. der rhythmus war nur noch ein wort.
tag und nacht waren kaum noch zu unterscheiden. er schlief wenig, ging
oft erst zu bett, wenn er total erschöpft war. je ausschließlicher
er versuchte, sich seiner identität bewußt zu werden, desto
weniger war sein ich noch beteiligt am sein. allein, der schreiberling
konnte übers geschriebene nicht erkennen, was ihn trennte, teilte,
spaltete, zerriß, warum er existiere. der prozeß des forcierten
verstummens töte am ende womöglich ihn selbst? ein sehr dunkler
abgrund öffnete sich. und kein fruchtbares feld wurde beackert -
kein vöglein flog auf und davon. nur noch trauerarbeit! ein schrei
ohne laut. wissend, er war und ist allein - und wird allein bleiben. wenn
im dunklen denken die sprache nicht im ohr klinge, der aufsteigende morgen
keine nachricht bringe, geselle sich zum gefühl der vergeblichkeit
ein absolutes schweigen. verließ er doch mal den raum und war draußen,
so pfiff der wind auf sein staunen. heute und hier gab es tatsächlich
ein gewaltiges unwetter. der zufall sei in der serie der wahrscheinlichkeitsprognosen
das ereignis, woraufhin ein spieler kopf und kragen riskiere - am ende
alles verliere.
in der wüste dieser einsamkeit saß er ( jahr ausgeblendet )
im abteil eines zuges. in Hamburg suchte er - ausgehend vom nullpunkt
- die spur zu finden, um dem erzeuger seiner existenz einmal auge in auge
gegenüberzustehen. zu lebzeiten seiner mutter hatte er vereinzelt
daran gedacht. doch er wußte, es wäre nur ein weiteres drama
daraus geworden, wenn sie es erfahren hätte. die vielen jahre später
gab es tausend andere gründe, sich ausschließlich nur dem jetzt
und hier – der gegenwartsbewältigung – zuzuwenden.
er arbeitete zu jener zeit 2 jahre in 2 kellerräumen, um seine unkunst
zu realisieren. zuletzt vorwiegend in einem 2 x 2.5 m winzigen raum, wo
er damit begann, die « gedanken zur unzeit » in worte zu fassen
( das erste buch hat am ende 288 seiten ).
wie gesagt, der name wegewitz ist – bundesweit - ziemlich selten.
er fuhr los, ohne sich zu vergewissern, ob eine eintragung im hamburger
telefonbuch existiere. es bedurfte seiner anwesenheit, der empfindung
vor ort, um jegliche rationale distanz zu überbrücken. nun,
er fand im hamburger telefonbuch seinen namen - und rief daraufhin drei
wildfremde, ihm völlig unbekannte menschen an.
er wollte wissen, ob sein erzeuger noch lebe. den papieren nach mußte
es in Hamburg noch direkte oder entfernte verwandte geben, mit denen er
vielleicht hätte kontakt aufnehmen können, über die er
über seinen erzeuger etwas in erfahrung brächte. so wählte
er als erste die rufnummer eines mannes, der im telefonbuch als professor
ausgewiesen war. mit dem grund seines anrufes war ja eine sehr große
sprachbarriere zu überwinden. vergleichbar dem schachspiel, könne
eine regelwidrige eröffnung schon im anfang die fortsetzung jedweden
weiteren dialogs völlig unmöglich machen. was er dann sagte,
sei vergessen. der zuerst angerufene war jedoch sofort bereit, mit ihm
zu reden. dieser wußte sogar über die verbreitung und herkunft
des namens, den sie ja gemeinsam hatten, einiges zu sagen. nun, er hätte
ihn sehr gerne näher kennengelernt, als das telefonat zuende ging.
da jener aber eine verwandtschaft im engeren sinne ganz ausschloß,
wäre es eine zumutung gewesen, aus dessen spontaner offenheit noch
eine persönliche begegnung abzuleiten. das positive gespräch
habe ihn ermutigt, ja beruhigt.
das zweite gespräch war sehr sonderbar. es schien ihm, er wäre
an die richtige adresse geraten. eine weibliche stimme, am anderen ende
der leitung, älter, wie er glaubte, hörte ihm eine weile zu.
er meinte herauszuhören, daß der mensch, dessen spur er suche,
unerreichbar war, daß dieser tot sei. seine fragen beantwortete
man in einer art und weise, daß er annahm, so antworte man nur,
wenn man verpflichtet sei, zu antworten, ohne beteiligt zu sein. vielleicht
deshalb, weil eine persönliche stellungnahme gar nicht erlaubt war?
kann ja sein, daß man ihn überhaupt nicht verstanden habe,
allein wegen des besonderen grundes - oder die person am anderen ende
des hörers sich überfordert sah, mit ja oder nein zu antworten.
anders wußte er sich das seltsame verhalten am telefon - im laufe
des gesprächs - nicht mehr zu erklären. so beendete er dieses
telefonat irgendwann mit einer höflichen floskel.
die ankunft und abfahrt der züge deprimierte ihn. alles war in bewegung,
in eile, alles hatte ein ziel, es wurde begrüßt oder verabschiedet.
er stand einfach nur da. kein mensch und kein tier schien ohne begleitung
- ohne zugehörigkeit.
der tod eines greises, so dachte er, wen interessiere das? aber wie nur
hatte jener in all den jahren zuvor gelebt? hatte der seine kinder total
vergessen oder verdrängt? obwohl der nie einen pfennig unterhalt
zahlte, sich niemals um die kinder kümmerte, hatte das jahrelange
negativbild der mutter sein interesse nicht verhindern können, vielmehr
geweckt, ihm, seinem erzeuger, doch eines tages - als konkrete person
- gegenüberzustehen. gefühle galten ja nicht ihm, viel eher
der mutter. so gab es kaum emotion. nur dieser abgrund, ein schwarzes
loch – dieses fremdsein. selbst wenn der vater ein unmensch gewesen
sei, so hätte dessen realität den kindern ein greifbares vater-mutter-kind-verhältnis
mit auf den weg geben können.
zögernd entschloß er sich dann doch noch, einen weiteren versuch
zu wagen, einen menschen namens wegewitz anzurufen. nachdem er in der
nähe des bahnhofs lange wie ein herrenloser hund herumgestreunt war
– noch dazu im regen.
das gleichförmige tuten am anderen ende der leitung wurde gefiltert
vom geräusch um ihn herum - in der telefonzelle. die fest ans ohr
gepresste muschel des hörers wirkte irgendwie seltsam beruhigend,
machte ungreifbares spürbar. es war ja noch gar keine sehr ungewöhnliche
tageszeit, als er anrief. innerlich war er weder anwesend noch abwesend.
die distanz zur eigenen wirklichkeit verstärkte dies. fast schien
er erleichtert, daß niemand ans telefon zu gehen schien. denn was
könnte er jetzt noch sagen? wie sollte er sich selbst vorstellen?
die erste anrede, im gespräch mit dem professor, ließ sich
nicht wiederholen, da hatte er sich kein einziges wort überlegen
müssen. ja selbst wenn er den vater fände, der wäre ja
inzwischen ein greis. sie wären - und blieben - sich doch vollkommen
fremd. wollte der sohn, bevor sein vater als fremder starb, ihm für
dessen letzte besinnung den anblick der realen existenz eines vergessenen
sohnes mit auf die allerletzte reise geben?
er wurde jäh aus seinen gedanken gerissen, er erschrak, als plötzlich
doch jemand den hörer abnahm. was auch immer er dann sagte, noch
bevor er zwei sätze zuende bringen konnte, hat man ihn ganz wüst
und lauthals beschimpft: "lassen sie uns endlich in ruhe!" -
und der hörer wurde wütend aufgeknallt.
das schreiben und lesen dieser sätze entspreche kaum noch jener realen
zeit des vergeblichen wartens - im hamburger bahnhof, am apparat. außerdem
sind inzwischen weitere vier jahre vergangen. damals wäre er jedoch
trotz alledem überaus klar im kopf gewesen, genug, um zu wissen,
es war das erste, einzige und auch letzte mal, daß er dort anrief.
nachzuhaken und zu fragen, ob es sich um eine verwechslung handele, erschien
ihm nun völlig sinnlos. hätte er damals versucht, dennoch den
anruf zu wiederholen, so wäre diese merkwürdige reaktion zwar
für ihn selbst nach dem zweiten anruf erklärbar, doch warum
auch immer, auf der anderen seite des telefonats blieb deren agressive
reaktion ein rätsel. möglicherweise hatte es ja mit der vergangenheit
seines erzeugers und seinen eskapaden ähnliche versuche der nachforschung
gegeben.
dies erleichterte ihm den entschluß: "das wird es also gewesen
sein, abgeschlossen und ende!" die toten sollen endlich in frieden
ruhen. die mutter. der vater. nur die vergebliche suche nach dem ursprung
wirke wohl noch eine lange zeit nach in ihm.
diese texte sind autobiografisch, 1991-1996
entstanden in einer schweren lebenskrise. die wahl der 3. person ER statt
ICH brachte genug emotionale distanz, um eine brücke zu sprache und schreibstil
als erwachsener zu bauen.
ÄSTHETIK
DES SCHEITERNS - ( aus buch 2 muttersprache/kindheit - das ganze buch
hat 144 seiten ) © die-wege
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