"...ohne
das würde alles noch schlimmer gehen, und unsere art will nicht
nur halb zugerichtet sein. wie die dinge fernerhin sich gestalten,
würde ein von geburt an mitten unter den andern sich selbst überlassener
mensch der entstellteste von allen sein. vorurteil, beeinflussung,
zwang, beispiel, alle die gesellschaftlichen einrichtungen, die
uns überfluten, würden die natur in ihm ersticken und nichts an
ihrer stelle zurücklassen. es würde ihm gehen, wie einem bäumchen,
das der zufall mitten auf der landstraße hervorwachsen lässt und
das die vorübergehenden, die rechts und links daran stoßen und
es nach allen richtungen umbeugen, bald verderben. "
*1: JEAN JAQUES ROUSSEAU # Emile ( ex libris 1987
)
GLEICH
WERDE ICH AUFBRECHEN, BALD WERDE ICH ANKOMMEN, NOCH BIN ICH HIER
*2
die
landschaft der kindheit wird wohl begradigt sein, dachte er. die
niers - mit ordnungsgemäß angelegtem wanderweg? von schildern
und sperrgittern umzingelt? die reise dorthin, ja, er werde sie
antreten. zunächst nur sehen, was nach so langer zeit noch erinnerbar
sei. eine brücke, über der niers. ausgangspunkt und übergang.
in sichtweite des hauses: viele fenster. eine treppe aus stein.
das eingangstor. ein großer flur und türen. ganz vorn, linke seite,
die türe zum zimmer, wo sie bis zu seinem zehnten lebensjahr hausten.
*2: selbst-zitat 1988
KINDHEIT
- DIE BRÜCKE
wenn
er die brücke über der niers überschritt, gabelte diese straße
nach hundert metern links im stumpfen winkel ab, geradeaus aber
führte sie in richtung eines schlachthofes, raus, zu den vororten
der stadt rheydt, an der niers. linker hand lag ein eingezäunter
acker, und dahinter, an den wald unmittelbar angrenzend, die pferdekoppel.
am rechten straßenrand, unmittelbar neben der niers, gab es eine
große saftige wiese, mit ein paar kühen. im anschluß daran folgte
ein kleines wohnlager, von menschen, die anders zu sein schienen,
welche ganz unter sich blieben. sie wohnten nicht in gemauerten
häusern, lebten ständig unter freiem himmel, zwischen gespannten
zeltplanen. umgeben von weiden, hecken und verbretterten hohen
zäunen. von einigen wellblechen eingefaßt, lag dieses camp wie
eine geheimnisvolle kleine insel darin. rauch sah er dann oftmals
aufsteigen. am offenen feuer hockten sie, im kreise. er sah ihre
schatten, vernahm vage laute, als er mit neugierigen sinnen an
den brettern des großen holztores lauschte. auch dort gab es einst
spielende kinder, die er aber den ort nie allein verlassen sah.
daß es korbmacher waren, wußte er, seit er sie ausfahren sah.
die wagen waren von oben bis unten mit allerlei geflochtenem,
große, kleine körbe meist, übervoll beladen und behangen.
wenn die kinder aus dem viertel diese wiese betraten und der hüter
der kühe mal in der nähe war, verjagte der sie oder drohte mit
einem stock. hin und wieder haben sie dabei vielleicht mal die
kühe im stoischen wiederkäuen aufgeschreckt. die nach links abbiegende
straße führte am waldrand entlang, wiederum gesäumt von umzäunten
gemüsebeeten. rechter hand lag eine große laubenkolonie. ein stück
weiter des weges folgte eine größere häusersiedlung. diese häuser
sind in seiner erinnerung ohne fenster. graue einheitlichkeit,
stumpfe und abweisende mauern. dort wohnten jene kinder, mit denen
sie sich ständig im kriegszustand befanden.
lief
er diese straße nun weiter geradeaus, später den waldrand entlang,
kam er auf der linken seite an einer der kleineren zwergschulen
( katholische vorschulen? ) vorbei. dann folgte er der nächsten
straßenkreuzung in einem bogen nach links. dort streifte er nun
bald die rückseite des waldes. ein stück weiter des weges sah
er, zwischen den bäumen versteckt, das große forsthaus. diese
straße ging er nun immer weiter geradeaus, bis sie wiederum auf
eine breitere straße stieß. auch diese überquerend, danach an
den feldern entlang, mal wieder rechts, mal links, sah er bald
auch wieder die niers, was jetzt davon noch sichtbar war. denn
jetzt floss sie weniger tief, wurde von betonrändern eingefaßt.
nun endlich mit dem lauf der niers immer weiter geradeaus. so
gelangte er schließlich nach schloß rheydt.
damals ein weiter weg, besonders für kinderbeine, von der brücke
daheim bis zum schloß und wieder zurück. er ist diesen weg sehr
oft gegangen. immer wieder sah er unterwegs etwas neues. mal einen
vogel, den er noch nicht kannte, mal einen besonders großen grashüpfer,
irgendwas am wegesrand, in der niers oder rund um schloß rheydt.
so umgab ihn, wie auch die kiesel im fluß, die natur. er hat die
niers mit dem schilf zusammen tanzen sehen. das licht und die
sonne, das waren seine zeitgeber.
von der uhr wußte er sehr lange nicht einmal das wort. zeit, das
bedeutete, die sonne ging auf und ging unter. wenn es stark regnete,
verkroch er sich irgendwo oder merkte nicht einmal, daß er pitschenass
wurde. nicht immer sah er - wie ein hans-guck-in-die-luft - zum
himmel. doch die abstürze waren ihm gewiß. zwischen den wolken
und den vögeln, der natur und ihm: ein unsichtbares band. vögel,
große, kleine, bewunderte, liebte er. wenn es dämmerte, tat er
etwas größere schritte und lief so den gleichen weg zurück, um
wieder bei der brücke zu landen. bis zum haus waren es dann noch
hundert, zweihundert schritte, je nachdem, wie lang die beine
waren. von der untersten stufe der treppe bis zur wohnungstüre
sprang er deren einzelne stufen hinauf oder hinab; etwa sieben,
acht, neun oder zehn.
tagsüber
überkletterte er das gatter, an der großen wiese; es riß ihm oft
ein loch in die hose, die wunde ins fleisch. die wiese: saftige
grasbüschel gaben ein schmatzendes geräusch von sich. meist war
sie feucht oder stand im frühjahr unter wasser, besonders nach
schneereichem winter, wenn die niers wesentlich mehr wasser führte
und dort an manchen tagen fast bis zur uferböschung anstieg. an
einem dieser tage sah er gebannt einem meisenpaar zu, das in einem
eisenrohr nistete, welches den stacheldraht des zaunes hielt.
unermüdlich flogen diese meisen aus und wieder ein. erstaunlich,
daß dieses unscheinbare detail sich so nachhaltig in sein wesen
eingenistet hat. so überaus sinnlich greifbar. er hatte auch mal
versucht, ein vogelnest samt jungvogel mitzunehmen. dieser kleine
vogel sei umgehend gestorben. er habe ihn begraben, ein holzkreuz
mit halmen gebunden und es zum abschluß der zeremonie feierlich
aufgestellt. immerhin lernte er so, künftig die finger von den
vögeln zu lassen. nicht von erziehern, sondern < nur > von
der natur belehrt. ob es ein schwarm winziger jungfische oder
ein stichling war, damals noch häufig die größeren, bis 15 oder
20cm langen weißfische, die so genannt wurden, da sie im licht
der sonne silbern, bis ins hellste weiß glänzten.
in netzen oder sonstwie gefangen, waren sie natürlich in büchsen
und gläsern nicht lange überlebensfähig. nachdem er auch dies
einsah, habe er sie nur noch gefangen, um sie im gefß eine weile
aus nächster nähe betrachten zu können. ganz zuletzt übergab er
sie dann wieder der obhut der natur.
eines schönen tages fing er mehrere kleine frösche, ganz in der
nähe von schloß rheydt. heimlich hatte er die frösche zuhause
in ein glas getan, ein papier mit löchern versehen und als abdeckung
mit einem faden festgebunden. dieses glas fand seine mutter abends.
für die frösche war die abdeckung kein hindernis gewesen, da sie
allesamt daraus entwichen waren. mutter und schwester hatten gar
kein verständnis für seinen forschungsdrang. sie blieben dem zauber
verschlossen.
mutter und schwester waren damals erst zu beruhigen, nachdem er
versicherte, nun alle frösche eingesammelt zu haben. diese frösche
mußte er abends wieder an der niers aussetzen. direkt an der niers
aber werden sie nicht viel größer geworden sein.
KINDHEIT
- IM FLUSS DER ZEIT
urplötzlich
prasselt ein kleines naturereignis hernieder, wolken rissen auf,
im nu stand die ganze römerstraße bürgersteighoch unter wasser.
sie liefen und sprangen herum, waren wie von sinnen, entledigten
sich der nassen kleider, wateten barfuß durch's sich stauende
wasser. die niers war das treibende element fliessender eindrücke.
die niers: "rechter nebenfluß der maas, 109 km." so
kurz wird im lexikon < sein fluß> beschrieben. die quelle
liegt in wanlo, wo aber mündet die niers? natürlich könnte man
sich kundig machen. es werde seine archaische erfahrung, was er
mit dem < fluß der zeit > verbinde, kaum bereichern. was
war und was ist: ohne anfang und ohne ende? an jenem tag waren
auch noch zwei klapprige fahrräder vom schrottplatz geholt worden.
es gab ein rennen, zwischen den kindern auf den rädern und dem
rennenden rest. dieser teil der römerstraße war kurz und bog vor
dem haus im rechten winkel nach links ab. man kam sich in die
quere. es wurde gestoßen und geschubst, zugetreten. zuerst rutschte
und stürzte einer, dann der ganze haufen, spätestens in der biegung,
am ende der überschwemmten straße. die radfahrer stürzten, weil
ein ausweichen zu spät erkannt wurde oder eine kette aus der führung
sprang. etwas lag im wege, das man im trüben wasser nicht sah,
ein stein oder schuh. während sich bei einem der ineinander verkeilten
fahrräder das gesetz der schwerkraft bemerkbar machte: indem ein
in die luft ragendes rad sich noch eine weile drehte, bis es allmählich
auslief, ganz langsam zum stillstand kam: leerlauf, reibung. die
natur der dinge. ja, alles war da. die natur ist ihm das höchste
geblieben, hat ihn mit allerlei anschauungsmaterial und phänomenen
bestens versorgt.
auf
dem großen schrottplatz konnten die kinder zwar unbehelligt herumklettern,
der schrott selbst aber war größtenteils tabu. doch reichte es,
um ein paar seifenkisten zu bauen. die räder von kaputten kinderwagen,
karosserien aus holz, mit blechstreifen zusammengehalten, verdrahtet,
genagelt und verknotet. eine steile abfahrt gab es in diesem viertel
zwar nicht, doch not macht erfinderisch. wie verschweißt mit diesen
kisten, zog man die beine an, im wettrennen. dabei riß ihm bei
einer allzu eifrigen fahrt ein sperriger dicker draht den rechten
zeigefinger bis auf den knochen auf. die narbe ist noch heute
deutlich zu sehen. die not-verarztung war damals nicht sonderlich
sorgfältig. immer wieder neue wunden, aber so etwas wächst sich
rasch aus. das war im nu vergessen. das war nicht weiter schlimm,
es gehörte dazu. im herbst sammelten sich die bewegungen im wirbelnden
taumel gefallener blätter. wenn die wilde kinderschar darüber
sprang und sich ins aufgeworfene laubwerk warf, riß oft die haut
auf an den knöcheln, ein knie blutete, eine kürzlich erst verschorfte
wunde platzte wieder auf. ein übersehener stolperstein oder eine
kuhle im boden, vom knickern übrig geblieben. die knickersteine
waren in blasse farben getaucht, in kleinen netzen verpackt. wenn
er endlich selbst genug groschen hatte, war eine handschale voller
knicker eine kleine kostbarkeit. knickern war ein schönes spiel,
hier war etwas mehr ruhe und geschicklichkeit gefragt. papierdrachen
habe er besonders gerne aufsteigen lassen. himmel und hölle, das
hinkelspiel, erinnere er noch gut. und: "dubbelidup, wat
soll dä donn, däm dat pfand jehürt?" mit der zeit wußte man,
welche hand auf den rücken schlug. die richtigen steine kamen
nicht zufällig geflogen, das war absicht, beflügelt vom motorischen
reflex, irgendwas zu tun, das folgen hatte, für den, den der stein
traf.
diese texte sind autobiografisch, 1991-1996 entstanden in einer
schweren lebenskrise. die wahl der 3. person ER statt ICH brachte
genug emotionale distanz, um eine brücke zu sprache und schreibstil
als erwachsener zu bauen.
ÄSTHETIK
DES SCHEITERNS - ( aus buch 2 muttersprache/kindheit - das ganze
buch hat 144 seiten ) © die-wege
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MIT : DENKZETTEL