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viele
der frühen erinnerungen sind damit verknüpft, oft der
körperlichen gewalt ausgesetzt zu sein, weil er nicht dazu
gehörte, sich nicht anzupassen und nicht zu wehren wußte.
auf der straße sind es die kinderspiele, wo das wechselspiel
in bewegung gerät, daß er sich immer wieder in die rolle
eines außenseiters versetzt sieht. er weiß sich bald
gezielt abzusetzen, zu vereinzeln. er verweigert sich, erträgt
die mißhandlungen der größeren kinder, indem er
sich innerlich unangreifbar macht. aus seiner orientierungslosigkeit
und sprachlosigkeit heraus wächst sein widerstand. im einklang
ist er immer nur in der natur, die ihn umgibt, ihn leitet, umtreibt.
dort fühlt er sich nicht verloren oder einsam. früh wird
es auch im zweckfreien spiel deutlich, weshalb er dazu neigt, sich
abzusondern, sich den regeln einer gruppe zu entziehen.
als
das ausmaß widersprüchlicher empfindungen allmählich
bewusster nach eigenen wegen sucht, er anfängt, zu begreifen,
daß er anders ist als alle anderen kinder im wohnviertel, zu diesem
zeitpunkt – 1955 - wird er plötzlich herausgerissen,
aus tagträumen, ängsten. sie ziehen um, in eine andere
gegend, wo er umlernen muß. sie wohnen ab 1955 in der dahlenerstraße
150; immer noch in rheydt. in einer kleinen zweizimmer-wohnung,
parterre. auch dort gibt es nur ein außenklo. er ist inzwischen
kein bettnässer mehr. auch in diesem haus spricht die mutter
mit niemand, weder mit nachbarn, noch mit irgendjemand sonst.
zur
katholischen volksschule dahlenerstraße ist es von der wohnung
ein katzensprung. diese schule besucht er bis zur schulentlassung,
im jahr 1958. parallel zur dahlenerstraße liegt die bachstraße.
zu dieser straße kommt man, von der wohnung aus gesehen, wenn
man um die nächste ecke links abbiegt, in eine straße
mit einem starken gefälle. am ende, nun rechts die bachstraße
entlang, kommt man zu einem kleinen lebensmittelladen. der lebensmittelladen
ist für arme leute die erste adresse, man kann kleine einkäufe
anschreiben lassen. immerhin ist es inzwischen etwas besser, obwohl
er auch diese gänge zum pumpladen nur sehr ungern tut; meist
geht er ohne geld los. da seine mutter invalide - gehbehindert -
ist, oft keine passende prothese hat, die vorhandene schmerzt, kann
sie allein aus diesem grund nicht gut laufen. auch wenn sie problemloser
gehen kann, meidet sie menschen. die schwester wird mit solchen
dingen nie konfrontiert, sie bleibt stumm, emotional unbeteiligt
- was auch immer passiert.
schlimmer
ist, seine geliebte natur, diese nierslandschaft, in unmittelbarer
nähe der alten wohnung, ist ihm genommen. doch erweitert er
auch hier schon bald sein revier, wo er außerhalb der schulzeit
ausgiebige streifzüge unternimmt. da er sich in diesem neuen
umfeld noch viel fremder fühlt, spürt er, was er vermißt,
was er verloren hat: die natur. den kindern fühlt er sich auch
hier nicht zugehörig. als er eines tages mal wieder von mehreren
jungs in die zange genommen wird, findet er ausgerechnet in einem
jungen, der sich oft schlägt, den fürsprecher. er erlebt
zum ersten mal, daß jemand ihm hilft und sein anderssein akzeptiert.
er ist nun seinerseits wieder öfters an einem unfug beteiligt.
eines tages wird er mit mehreren mitschülern erwischt oder
verpetzt, als sie in einer schulpause um die wette pinkeln. sie
haben sich auf der bachstraße aufgestellt, am anderen ende
des schulhofs, eigentlich außerhalb des schulgeländes.
sie stehen vor der schulmauer und versuchen herauszufinden, wer
höher und weiter zu pinkeln versteht. typisch, für die
sozialisation zum mann? eher bemerkenswert, daß er sich noch
immer sehr deutlich daran erinnere. weil mit diesem unfug einhergeht,
fortan auch im klassenverbund akzeptiert zu werden. denn diese aktion
hat ein einprägsames nachspiel, da er und die anderen jungs
nach der pause vor die versammelte klasse treten müssen, wo
der rektor, der zudem ihr klassenlehrer ist, ihnen jeweils zwei
schallende ohrfeigen verpaßt. tatsächlich hat er ab diesem
tag kaum noch probleme mit den mitschülern. auch die beteiligung
am unterricht ist besser geworden, seine leistungen werden in folge
besser benotet. er ist kein feigling. denn schon im ursprünglichen
umfeld hat er oft bei lebensgefährlichen kinderspielen mitgemacht.
das war etwas völlig anderes, als sich zu verweigern, wenn
es galt, tiere zu quälen oder kleine, schwächere kinder
zu schlagen.
spätestens
nachdem im ursprünglichen sinne von zweckfreiem spiel, in aller
unschuld, keine rede mehr sein konnte, ab diesem punkt hat er sich
aufgelehnt, gegen die regeln einer gruppe oder eines anführers,
denen andere zu folgen beliebten. er habe sich niemals ein-unter-ordnen
wollen oder können. das recht des stärkeren ist, sich
geltung zu verschaffen, in einer gruppe. das aber ist seine sache
noch nie gewesen. als außenseiter lernt man früher oder
später, bewußter wahrzunehmen, anders zu denken, ob mit
oder ohne sprache der wörter.
diese texte sind autobiografisch, 1991-1996 entstanden in einer
schweren lebenskrise. die wahl der 3. person ER statt ICH brachte
genug emotionale distanz, um eine brücke zu sprache und schreibstil
als erwachsener zu bauen.
ÄSTHETIK
DES SCHEITERNS - ( aus buch 2 muttersprache/kindheit - das ganze
buch hat 144 seiten ) © die-wege
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