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Die Vergangenheit
zu kennen und zu verdrängen, macht böse,
sie zu vergessen, macht dumm.
ERICH
KÄSTNER [ 23. Februar 1899 - 29. Juli 1974 ] ?
KINDHEIT
- HUNGER
da
sie zuhause oft hunger leiden, gibt es keine geregelten mahlzeiten.
meist spielt er bis zum einbruch der dämmerung draussen. eines
schönen tages steht er mit anderen kindern am rand einer grossen
baugrube. eines der kinder hat ihn hineingestossen. wie er es
geschafft hat, aus dieser grube herauszukommen, weiß er nicht
mehr. vielleicht half ein arbeiter ihm dabei. er kommt erst wieder
zu sich, als er auf einer großen wiese liegt. er hat starke schmerzen,
besonders in der schulter. die wiese liegt auf halbem wege zwischen
dem wohnblock und der grube. da er weiß, daß zuhause niemand ist,
bleibt er noch eine ganze weile dort liegen. da die schmerzen
nicht nachlassen, erhebt er sich. einen schlüssel für die wohnung
hat er. sein bedürfnis, sich ins bett zu legen, treibt ihn. beim
versuch sich auszuziehen, spürt er einen stechenden schmerz. er
findet eine schere und schneidet schließlich sein hemd auf. dann
ist er eingeschlafen.
als
seine mutter nachhause kommt und das kaputte hemd sieht, ist sie
völlig außer sich. sie hat ihn sogar mehrmals geschlagen. irgendwann
hat sie dann doch gemerkt, daß seine schmerzen nicht allein von
den schlägen herrühren können. die mutter konnte nicht sehen, was
ihm fehlt, daß er verletzt ist und dringend zum arzt muß. da er
den weg zum arzt kennt, geht er alleine hin, wie so oft schon. die
arztpraxis liegt in der nähe seiner schule. als der arzt ihn untersucht
hat, wird er umgehend mit einem krankenwagen ins rheydter kinderkrankenhaus
gebracht. spater wacht er in einem großen fremden zimmer auf. daß
er operiert worden ist, weiß er nicht. allein, daß er in diesem
ganz fremden bett liegt, ist ungewöhnlich genug. er ist wiederholt
eingeschlafen und wieder aufgewacht - noch immer liegt er in diesem
großen und fremden raum. man bringt ihm sogar öfters was zu essen
ans bett. er guckt häufig aus dem fenster, als fände er dort eine
antwort.
er antwortet leise und sehr schüchtern auf einige der fragen, die
ein arzt oder eine krankenschwester stellt. bald fühlt er sich besser.
ja er fühlt sich sogar sehr gut. die tage sind viel, viel heller
als sonst.
es handelte sich um einen schlüsselbeinbruch. das beste in dieser
zeit im krankenhaus wird zweifellos die verpflegung mit reichlich
nahrung gewesen sein. denn sie haben noch mehrere jahre manchmal
vor hunger geweint.
er
wurde oft zum bäcker geschickt, um zu fragen, ob nicht etwas trockenes
brot übrig wäre. schon sieht er sich wieder zu dem laden gehen und
durch das fenster gucken, ob noch andere leute da sind, welche gerade
brot kaufen - und welche frau hinter der theke steht. denn man weiß
ja nie. nicht jedesmal bekommt er ein stück brot, wenn er betteln
gehen muß.
er guckt dann zuerst ein bißchen beiläufig ins fenster, um sich
einen groben überblick zu verschaffen. dann öffnet er langsam die
tür. er meint, es wäre eine tür mit glasfenster gewesen, mit einem
goldfarbenen griff. er geht zaghaft zur theke und wartet, bis die
verkäuferin ihn direkt anspricht. ungern stellt er sich an, falls
noch richtige kundschaft im laden ist. dann verkrümelt er sich lieber
solange, wartet, bis alle anderen leute weg sind. er wünscht, die
verkäuferin möge ihn wiedererkennen, nicht schon wieder fragen,
was er denn will - dann müßte er sich wieder was einfallen lassen
und nach den richtigen worten suchen, um nicht zu poltern. nur ja
nicht ohne brot heimkommen! seine dreiundeinhalb jahre ältere schwester
wird zu einer völlig passiven haltung gebracht; kann man sagen:
erzogen? er dagegen wird sehr früh zum ersatzmann und muß all diese
unangenehmen dinge tun. dabei ist er still und schüchtern. warum
versucht die mutter nicht, ihre notlage zu erklären? daß sie ganz
allein zwei kinder ernähren muß, der mann keinen unterhalt zahlt,
daß sie gehbehindert ist, daß sie besonders arm dran waren. obwohl
armut und hunger damals viele menschen traf. doch sie hungerten
selbst dann noch, als es längst in der brd wieder aufwärts ging.
aber die mutter redet mit niemand. wo ging sie hin, was tat sie,
wenn sie nicht zuhause war? trotz großer armut waren die kinder
gut gekleidet, wenn man seine alten schulfotos ansieht. was der
mutter wichtig war, das erreichte sie. daß sie 1955 weg von diesem
sozialen brennpunkt in eine andere gegend umgezogen sind, daß er
gleich nach der volksschule mit 14 jahren in eine sehr gute lehre
kam, seine schwester hingegen eine ungelernte arbeit in einer textilfabrik
annehmen mußte, das war der beginn einer für ihn selbst ganz entscheidenden
veränderung.
außer
im krankenhaus oder im kinderheim gab es in seiner kindheit höchst
selten was gutes zu essen. an ein normales stück fleisch, mit beilage,
war überhaupt nicht zu denken. bei einer kartoffelkäferplage gab
es damals für soundsoviel eingesammelte käfer soundsoviel groschen
oder kartoffeln. von den schalen der kartoffeln, ob erarbeitet oder
geklaut, hat seine mutter ganz zuletzt noch eine suppe gemacht.
die suppe hat er plastisch vor augen, da sie gemeinsam weinten.
obst und leckereien gab es einmal im jahr, zu weihnachten. er sieht
sich bei einer dieser wohlfahrts-weihnachtsfeiern, in einem saal,
unter vielen kindern. auf der großen bühne steht der nikolaus. die
kinder sind dann einzeln über eine kleine treppe zur bühne gelaufen,
um dort eine tüte mit leckereien in empfang zu nehmen. er hat große
angst vor dem gang dorthin, da er glaubt, der knecht ruprecht werde
ihn in einen großen sack stecken und ihn dann einfach in ein klosett
stopfen, die spülung betätigen - und weg wäre er! fast bis zum zehnten
lebensjahr ist er bettnässer gewesen. es gab nur ein außenklo. nachts
pinkeln sie in einen eimer. 1954 ist er in ein kindererholungsheim
gekommen; niendorf/ostsee. im streng katholisch geführten heim versuchen
schwestern eine art teufelsaustreibung. gewaltsam werden dort die
daumenlutscher nachts ans bett gefesselt oder deren finger werden
mit einem scharfen zeug eingerieben. was sie damals mit bettnässern
angestellt haben, hat er vergessen. kinder mit starkem übergewicht
müssen literweise essigsoße trinken, die aus den salatschüsseln
zusammengekippt wurde. kinder die ihren nachtisch nicht mögen, kriegen
solange einen neuen hingestellt, bis sie ihn nicht mehr auskotzen,
die schüsseln leer sind.
vor und nach dem essen muß mit den schwestern gebetet und gott für
all diese guten gaben gedankt werden. das mutet heutzutage an, wie
aus einem anderen jahrhundert. die frommen betschwestern haben in
dem glauben gehandelt, daß den kindern, die vorwiegend aus der gosse
kamen, nur so ein lichtlein aufgehen werde und deren böse anlagen
durch bestrafung zu heilen seien. was weiß der immel, ein grund
früh unglubig zu werden. 1955 gab es eine weitere maßnahme,
in einem heim auf der insel norderney; davon hat er nur ein foto,
mit vielen kindern und freundlicher, weltlicher betreuung am strand.
diese
texte sind autobiografisch, 1991-1996 entstanden in einer schweren
lebenskrise. die wahl der 3. person ER statt ICH brachte genug emotionale
distanz, um eine brücke zu sprache und schreibstil als erwachsener
zu bauen.
ÄSTHETIK
DES SCHEITERNS - ( aus buch 2 muttersprache/kindheit - das ganze
buch hat 144 seiten ) © die-wege
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