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KINDHEIT
- VOM LAUT ZUM KLANG
draußen
aber sah er den hellen, weiten, fernen himmel an. er lernte von
der natur. er lauschte den vögeln und sprang den fröschen
und grillen hinterher. er streckte die beine aus, wartete lange
auf das tier. er hörte das gras wachsen. bis es dunkel war.
so war seine zeit vom licht geleitet. oft sah er eine ewigkeit lang
zu, wie eine hummel oder ein bienenvolk fleißig war, die libellen
sich dicht über das wasser schraubten, ein habicht höher
und höher stieg, mal große, mal kleinere kreise zog,
jäh herabzufallen schien. ein stichling, mit roter kehle, ein
schwarm weißfische, kam angeschwommen, verschwand. ein käfer
krabbelte auf und davon. ein wurm wurde verschlungen. von den stummen
fischen lernte er, lange zu schweigen.
KINDHEIT
- IM FLUSS DER ZEIT
er
sehe sich noch auf der brücke stehen, das schwankende netz
aus geflochtenem draht mit langen kordeln in beide hände nehmend,
holt er weit aus, seine kinderarme beschreiben einen hohen bogen
in der luft. und er verliert den halt, stürzt kopfüber
in den fluß. während er sich noch in zeitlupe stürzen
sieht, hört er, wie die anderen kinder - schadenfroh - lachen.
er sehe sie rennen, er höre sie rufen: "dietmar ist wieder
in den fluß gefallen..." er sieht nun den helleren lichtbogen
auch, am anderen ende. unter dem dunkel der brücke erscheint
der fluß tiefer und tiefer. er tastet sich langsam zögernd
voran, watet ins ungewisse. er sieht mehrere schattenrisse - angeschwemmt,
verhakt. langsam verrottende figuren. magische gestalten. die brücke
hüllt das geheimnis der herkunft ins dunkle. heute denkt er,
es war vielleicht hineingeworfener sperrmüll, ein stück
schrank oder eine vermoderte matratze. dem kind aber waren sie damals
mimen, gaukler, die - schon lange unterwegs - hier rasteten, sich
eine zirkuspause gönnten. einsame, stumme wanderer. im fluß
der zeit. seine pitschnassen kleider, furcht, kälte und jegliche
not vergessend, versucht er, es ihnen gleich zu tun - und halb schwimmend,
halb treibend, schwankend und stolpernd, steigt er über den
glitschigen grund der niers. er wußte, nur vor der schleuse
war der fluß tiefer als sein kopf unter wasser, wo er einst
vom angeschwemmten schilf, das als boot dienen sollte, herabgestoßen
wurde und noch mit offenen augen staunend sich fortbewegte, mehr
gehend als schwimmend, zum rettenden ufer hin; wo er erst später
zu schwimmen lernte. aus der sicht erwachsener ist dieser fluß
nur ein flüßchen. er ist nun mitten im gewölbe.
seine augen sehen die fliehenden wasserratten. doch habe er auch
davor keine angst. er erinnere: nur die großen wanderratten,
die mochte keiner. und doch ist er froh, daß er am ende dieses
tunnels wieder alles klar und deutlich erkennt, bis er wieder ins
licht tritt. als erstes sieht er einen kleinen weißfischschwarm
durch seine beine flitzen. im schilf und zwischen den steinen. er
sieht sie, wie kleine schuppige blitze jagen sie auf und davon,
drehen sich, stocken, schweben für einen moment auf der stelle,
schwimmen flußaufwärts, treiben mit der leichten strömung
flußabwärts davon.
dort also entdeckte er, lange bevor er andere menschen oder sich
selbst zum ersten mal bewußt sprechen hörte, daß
es oft nicht wichtig sei, ob man für alles einen namen weiß,
daß nicht immer wahr sein muß, was man höre oder
nenne. er lernte zu sehen - aber auch zu verschweigen. wenn er hin
und wieder mit den vielen kindern aus dem viertel von hohen mauern
springt, in einer zerbombten ruine herumklettert oder die noch offenen
kanäle hinabsteigt, viel sah und erlebte, mit den kindern sogar
karbidbomben explodieren läßt, dann ist ihm klar, die
mutter darf das nicht wissen.
die mutter machte sich ohnehin zuviele dunkle gedanken. gab es mit
ihr überhaupt eine - wortlose - gemeinsame sprache? ihm ist
heute schleierhaft, wie er damals sprechen lernte. es ist viel häufiger
so, daß er ganz alleine spielt und hofft, das unbekannte eher
zu entdecken. wobei er ohnehin meist tagträumt, zeitlos unterwegs
ist, dabei viele tiere sieht. dazu aber sind die anderen kinder
zu laut, zu gewalttätig. einmal hat er gesehen, wie mehrere
kinder sich einen großen spaß daraus machten, einen
lebendigen frosch mit einem strohhalm aufzublasen! er war ganz furchtbar
entsetzt. da er sich darüber schrecklich aufgeregt hat, hörte
er auf, ein teil der gruppe zu sein. auch das ist eine urerfahrung.
er habe es niemals vergessen. wie auch die gewalttat eines mannes
nicht, der auf dem schrottplatz ( zur belustigung aller - nein,
ihn hat es tief getroffen ) einem hahn mit seiner bloßen hand
den kopf abdreht. der kopflose hahn rannte dann noch etliche runden,
wie von sinnen, im kreis.
in der wiederholung merkt das kind, später als knabe und mann,
daß die fehlenden antworten immer noch in der seele brennen.
doch niemand ist noch da, den er fragen könnte. einige antworten
sind im laufe der jahre vom leben gegeben worden. die zeit ist verloren,
wo es möglich war, sich treiben zu lassen, sich über die
vergangenheit hinwegzusetzen, wo er zu früh oder zu spät
die wahrheit erkannte. eine wahrheit, die schmerzt. die zeit der
enttäuschung ist im fluß der zeit fortgetrieben, untergegangen,
versunken. was bleibt? wie darauf antworten? lauter - dumme - fragen.
diese texte sind autobiografisch, 1991-1996 entstanden in einer
schweren lebenskrise. die wahl der 3. person ER statt ICH brachte
genug emotionale distanz, um eine brücke zu sprache und schreibstil
als erwachsener zu bauen.
ÄSTHETIK
DES SCHEITERNS - ( aus buch 2 muttersprache/kindheit - das ganze
buch hat 144 seiten ) © die-wege
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MIT : DIE BRUECKE |