nach
dem tod der mutter fand er die kleine mappe, mit fotos und papieren.
einige fotos kannte er. doch da waren viele, von denen er keine
ahnung hatte. kinderfotos gab es, sowohl von seiner mutter als
auch vom vater, dem erzeuger. fotos auch aus der zeit, da sie
und sein vater sich begegnet sein müssen. ein foto, kurz bevor
der mutter ein bein amputiert wurde; dieses foto habe sie ihm
jedoch sehr oft gezeigt. auch mehrere sehr alte fotos waren dabei,
ihre und seine verwandtschaft abbildend, den vater und die mutter
als kind zeigend. zudem waren auf einigen alten lichtbildern sogar
die urgroßeltern zu sehen. und sogar eine alte fotopostkarte war
dabei, vom großvater, mütterlicherseits, als dieser im lazarett
gelegen hatte und von der kriegsfront im ersten weltkrieg ein
paar lapidare grüße übermittelt hatte.
ein jagdaufseher war dabei, mütterlicherseits. bürgertum, kaufleute
und binnenschiffer, väterlicherseits. korbmacher gab es sogar.
so eine art fahrendes volk in der entfernten verwandtschaft gehabt
zu haben, übertrug er in das rastlose gefühl, als er die kleine
vergilbte plastikmappe mit fotos und einigen zerfledderten papieren
im nachlaß seiner mutter fand. diese vergilbten dokumente holte
er manchmal hervor, wenn ihn dieses gefühl der unzugehörigkeit
zu sehr plagte.
nur ein einziger brief des im krieg gefallenen bruders der mutter
war auch dabei und mehrere amtliche schriftstücke. diese art nachlaß
sollte erst viele jahre nach der mutter tod eine größere bedeutung
bekommen, da sich überhaupt nur anhand dieser dokumente ein verwandtschaftlicher
bezug herstellen ließ. es waren mehrere uralte geburtsnachweise
dabei, teilweise mitsamt reichsadler abgestempelte beglaubigungen.
und sogar ein paar amtliche kopien, auf sehr dünnem papier, seinen
erzeuger betreffend.
seine mutter hatte nur wenige lose blätter aufbewahrt. was natürlich
auch heißen kann, mehr habe es niemals gegeben. einige fast verwitterte
dokumente gaben annähernd auskunft darüber, wer mit wem - wie
- verwandt war. für ihn eine fremde welt. familien, die er allesamt
niemals kennenlernen konnte. da sie nie in erscheinung getreten
waren. geisterhaft erstand vor seinen augen ein diffuses bildnis.
dieser oder jener mensch hätte ihm die vergebliche suche nach
zugehörigkeit ersparen können. wie kam es zu dieser totalen kontaktlosigkeit?
gefunden u.a. feldpost aus russland,
datum 22. 2. 1944
und vom N.S.V. = mütterheim Unterach/Attersee, Österreich
hier
soll nun vom vaterbild die rede sein. er kannte seinen vater nur
vom hörensagen, es war unmöglich, sich mit dem zu identifizieren.
die materielle not war ja noch zu bewältigen. doch wie damit
leben? das problem war die mutter! sein vater ein hirngespinst.
nicht nur der, in seiner mutter weltbild waren einfach zuviele
menschen schlecht und bösartig. nein, das sollte man kindern
nicht unentwegt antun. das sei gar nicht gut fürs gemeinschaftsgefühl,
fürs zugehörigkeitsgefühl - für den aufbau
einer persönlichen identität. solche sei ihm nicht mit
der geburt in die wiege gelegt worden. ja nicht mal eine liebe
zwischen bruder und schwester habe die mutter den kindern ermöglicht.
anzunehmen, daß seine schwester, als sie mit dreiundeinhalb
jahren ein brüderchen sah, nicht sehr erfreut war. da seine
mutter sie darauf sicher nicht vorbereitete. entstehe doch in
dieser frühesten phase die prägende geschwisterbeziehung;
und die problematik, falls das ältere geschwister sich urplötzlich
völlig verändert behandelt sieht.
seine schwester habe - auch seiner mutter gegenüber - keine
anzeichen von gefühlen zeigen können. zumindest habe
er bei der schwester kaum jemals auch nur die allergeringste emotionale
regung bemerkt, auch in extremsten situationen nicht, ja sogar
dann nicht, als die mutter beerdigt wurde. die absurde, äußerlich
emotionslose trauerzeremonie hat er lange vergeblich zu verdrängen
versucht. damals war er sogar erleichtert gewesen, als die mutter
nach einem unfall nicht mehr aus ihrem koma erwachte.
seine schwester lebte zeitlebens wie ein schatten mit der mutter
zusammen, sie hatte niemals freunde. und er erinnere sich nicht,
daß die schwester jemals mit ihm gespielt hätte. dabei
erinnere er andere erlebnisse nach vielen jahren wieder überaus
klar und deutlich.
sie sind sich also zeitlebens fremd geblieben. ein rätselhafter
nebel. in all seinen frühesten erinnerungen ist seine schwester
wie ausgelöscht. bis auf eine einzige situation, die mit
der katze, wo er die schwester überhaupt mal ganz bewußt
und nahezu körperlich greifbar erinnere ( * DIE
KATZE ).
im
jahre ( ausgeblendet ) fühlte er sich
getrieben, endlich den mut zu fassen, sich aufzumachen, um wenigstens
einen teil seiner unzugehörigkeit zu erforschen. er tat dies
und tue es noch, vermittels endloser sätze, deren fatale
sinnlosigkeit wohl verstört. er versank im treibsand verlorener
motivation.
seine aktivität reduzierte sich auf das rollen der augen
und damit verbundener erschöpfungszustände der seelischen
bekanntheitsgrade. er trieb den teufel mit dem beelzebub aus.
das monologisierende trauma des wiederholungszwangs verbannte
er zu jener zeit buchstäblich in den keller. er hielt es
aus, immerhin. der rhythmus war nur noch ein wort. tag und nacht
waren kaum noch zu unterscheiden. er schlief wenig, ging oft erst
zu bett, wenn er total erschöpft war. je ausschließlicher
er versuchte, sich seiner identität bewußt zu werden,
desto weniger war sein ich noch beteiligt am sein. allein, der
schreiberling konnte übers geschriebene nicht erkennen, was
ihn trennte, teilte, spaltete, zerriß, warum er existiere.
der prozeß des forcierten verstummens töte am ende
womöglich ihn selbst? ein sehr dunkler abgrund öffnete
sich. und kein fruchtbares feld wurde beackert - kein vöglein
flog auf und davon. nur noch trauerarbeit! ein schrei ohne laut.
wissend, er war und ist allein - und wird allein bleiben. wenn
im dunklen denken die sprache nicht im ohr klinge, der aufsteigende
morgen keine nachricht bringe, geselle sich zum gefühl der
vergeblichkeit ein absolutes schweigen. verließ er doch
mal den raum und war draußen, so pfiff der wind auf sein
staunen. heute und hier gab es tatsächlich ein gewaltiges
unwetter. der zufall sei in der serie der wahrscheinlichkeitsprognosen
das ereignis, woraufhin ein spieler kopf und kragen riskiere -
am ende alles verliere.
in der wüste dieser einsamkeit saß er ( jahr ausgeblendet
) im abteil eines zuges. in Hamburg suchte er - ausgehend vom
nullpunkt - die spur zu finden, um dem erzeuger seiner existenz
einmal auge in auge gegenüberzustehen. zu lebzeiten seiner
mutter hatte er vereinzelt daran gedacht. doch er wußte,
es wäre nur ein weiteres drama daraus geworden, wenn sie
es erfahren hätte. die vielen jahre später gab es tausend
andere gründe, sich ausschließlich nur dem jetzt und
hier – der gegenwartsbewältigung – zuzuwenden.
er arbeitete zu jener zeit 2 jahre in 2 kellerräumen, um
seine unkunst zu realisieren. zuletzt vorwiegend in einem 2 x
2.5 m winzigen raum, wo er damit begann, die « gedanken
zur unzeit » in worte zu fassen ( das erste buch hat am
ende 288 seiten ).
wie gesagt, der name wegewitz ist – bundesweit - ziemlich
selten. er fuhr los, ohne sich zu vergewissern, ob eine eintragung
im hamburger telefonbuch existiere. es bedurfte seiner anwesenheit,
der empfindung vor ort, um jegliche rationale distanz zu überbrücken.
nun, er fand im hamburger telefonbuch seinen namen - und rief
daraufhin drei wildfremde, ihm völlig unbekannte menschen
an.
er wollte wissen, ob sein erzeuger noch lebe. den papieren nach
mußte es in Hamburg noch direkte oder entfernte verwandte
geben, mit denen er vielleicht hätte kontakt aufnehmen können,
über die er über seinen erzeuger etwas in erfahrung
brächte. so wählte er als erste die rufnummer eines
mannes, der im telefonbuch als professor ausgewiesen war. mit
dem grund seines anrufes war ja eine sehr große sprachbarriere
zu überwinden. vergleichbar dem schachspiel, könne eine
regelwidrige eröffnung schon im anfang die fortsetzung jedweden
weiteren dialogs völlig unmöglich machen. was er dann
sagte, sei vergessen. der zuerst angerufene war jedoch sofort
bereit, mit ihm zu reden. dieser wußte sogar über die
verbreitung und herkunft des namens, den sie ja gemeinsam hatten,
einiges zu sagen. nun, er hätte ihn sehr gerne näher
kennengelernt, als das telefonat zuende ging. da jener aber eine
verwandtschaft im engeren sinne ganz ausschloß, wäre
es eine zumutung gewesen, aus dessen spontaner offenheit noch
eine persönliche begegnung abzuleiten. das positive gespräch
habe ihn ermutigt, ja beruhigt.
das zweite gespräch war sehr sonderbar. es schien ihm, er
wäre an die richtige adresse geraten. eine weibliche stimme,
am anderen ende der leitung, älter, wie er glaubte, hörte
ihm eine weile zu. er meinte herauszuhören, daß der
mensch, dessen spur er suche, unerreichbar war, daß dieser
tot sei. seine fragen beantwortete man in einer art und weise,
daß er annahm, so antworte man nur, wenn man verpflichtet
sei, zu antworten, ohne beteiligt zu sein. vielleicht deshalb,
weil eine persönliche stellungnahme gar nicht erlaubt war?
kann ja sein, daß man ihn überhaupt nicht verstanden
habe, allein wegen des besonderen grundes - oder die person am
anderen ende des hörers sich überfordert sah, mit ja
oder nein zu antworten. anders wußte er sich das seltsame
verhalten am telefon - im laufe des gesprächs - nicht mehr
zu erklären. so beendete er dieses telefonat irgendwann mit
einer höflichen floskel. die ankunft und abfahrt der züge
deprimierte ihn. alles war in bewegung, in eile, alles hatte ein
ziel, es wurde begrüßt oder verabschiedet. er stand
einfach nur da. kein mensch und kein tier schien ohne begleitung
- ohne zugehörigkeit.
der tod eines greises, so dachte er, wen interessiere das? aber
wie nur hatte jener in all den jahren zuvor gelebt? hatte der
seine kinder total vergessen oder verdrängt? obwohl der nie
einen pfennig unterhalt zahlte, sich niemals um die kinder kümmerte,
hatte das jahrelange negativbild der mutter sein interesse nicht
verhindern können, vielmehr geweckt, ihm, seinem erzeuger,
doch eines tages - als konkrete person - gegenüberzustehen.
gefühle galten ja nicht ihm, viel eher der mutter. so gab
es kaum emotion. nur dieser abgrund, ein schwarzes loch –
dieses fremdsein. selbst wenn der vater ein unmensch gewesen sei,
so hätte dessen realität den kindern ein greifbares
vater-mutter-kind-verhältnis mit auf den weg geben können.
zögernd entschloß er sich dann doch noch, einen weiteren
versuch zu wagen, einen menschen namens wegewitz anzurufen. nachdem
er in der nähe des bahnhofs lange wie ein herrenloser hund
herumgestreunt war – noch dazu im regen.
das gleichförmige tuten am anderen ende der leitung wurde
gefiltert vom geräusch um ihn herum - in der telefonzelle.
die fest ans ohr gepresste muschel des hörers wirkte irgendwie
seltsam beruhigend, machte ungreifbares spürbar. es war ja
noch gar keine sehr ungewöhnliche tageszeit, als er anrief.
innerlich war er weder anwesend noch abwesend. die distanz zur
eigenen wirklichkeit verstärkte dies. fast schien er erleichtert,
daß niemand ans telefon zu gehen schien. denn was könnte
er jetzt noch sagen? wie sollte er sich selbst vorstellen? die
erste anrede, im gespräch mit dem professor, ließ sich
nicht wiederholen, da hatte er sich kein einziges wort überlegen
müssen. ja selbst wenn er den vater fände, der wäre
ja inzwischen ein greis. sie wären - und blieben - sich doch
vollkommen fremd. wollte der sohn, bevor sein vater als fremder
starb, ihm für dessen letzte besinnung den anblick der realen
existenz eines vergessenen sohnes mit auf die allerletzte reise
geben?
er wurde jäh aus seinen gedanken gerissen, er erschrak, als
plötzlich doch jemand den hörer abnahm. was auch immer
er dann sagte, noch bevor er zwei sätze zuende bringen konnte,
hat man ihn ganz wüst und lauthals beschimpft: "lassen
sie uns endlich in ruhe!" - und der hörer wurde wütend
aufgeknallt.
das schreiben und lesen dieser sätze entspreche kaum noch
jener realen zeit des vergeblichen wartens - im hamburger bahnhof,
am apparat. außerdem sind inzwischen weitere vier jahre
vergangen. damals wäre er jedoch trotz alledem überaus
klar im kopf gewesen, genug, um zu wissen, es war das erste, einzige
und auch letzte mal, daß er dort anrief. nachzuhaken und
zu fragen, ob es sich um eine verwechslung handele, erschien ihm
nun völlig sinnlos. hätte er damals versucht, dennoch
den anruf zu wiederholen, so wäre diese merkwürdige
reaktion zwar für ihn selbst nach dem zweiten anruf erklärbar,
doch warum auch immer, auf der anderen seite des telefonats blieb
deren agressive reaktion ein rätsel. möglicherweise
hatte es ja mit der vergangenheit seines erzeugers und seinen
eskapaden ähnliche versuche der nachforschung gegeben.
dies erleichterte ihm den entschluß: "das wird es also
gewesen sein, abgeschlossen und ende!" die toten sollen endlich
in frieden ruhen. die mutter. der vater. nur die vergebliche suche
nach dem ursprung wirke wohl noch eine lange zeit nach in ihm.