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KINDHEIT UND SPRACHE

als kind hat er noch nicht in sprache gedacht. er wunderte sich oder staunte. er hat es nicht gelernt, zu fragen, wenn er etwas gar nicht verstehen kann. er hat sicherlich schon vage intuitionen und ahnungen, natürlich auch gefühle. er kennt keinerlei regeln, nur instinktive handlungsmuster.

oma und opa? onkel oder tanten? nein, da sind keine verwandten. so gibt es kaum ein greifbares handlungs- und sprachmuster, woran er sich hätte orientieren können. die straßenkinder sind altersmäßig wild durcheinander gewürfelt. da können einige kinder kaum laufen, andere wiederum sind schon größer, lang und mager, hochgeschossen wie geilwüchsige triebe. lulatsch, der stotterer, der längste von allen. und viele kleine rotznasen. vorwiegend kinder aus einem großen familienbund. jenem clan, der hinter dem wohnblock den schrottplatz unterhält. wenn die dämmerung naht, die tagesgeräusche abklingen, die kleinsten im bett liegen, folgt das geschrei und gezeter der alten. oft bis spät in die nacht hinein krach und viel streit. krakeeler und trunkenbolde, schlägereien, gewaltsprache. viele der kinder sind mit den prügeln oft besoffener väter groß geworden. stammler, stotterer, dumme oder stumme.

in rheydt und rundum im umfeld der römerstrasse wurde eine abart des rheinländischen dialektes gesprochen, das er als rheydter platt ( "re-jerr platt" ), als wortwörtlich platte, reduzierte sprache noch manchmal vage im ohr habe. die ersten zehn jahre seiner kindheit war er überhaupt noch nicht an sprache gebunden, unfähig, sich sprachlich zu entäußern. sprache wurde nach der entlassung aus der volksschule umso bedeutsamer.

POLTERN DER SPRACHE

das poltern der sprache: "...überhastet und doch nicht schnell, sondern eher langsam. die wortbildung ist fehlerhaft, laute werden verwechselt oder ausgelassen, silben sind ohne kontur, aussprache ohne profil. der polterer kann, wenn er will oder muss, im gegensatz zum stotterer. er darf daher ermahnt werden, nicht schneller zu denken als zu sprechen. er soll mit den gedanken beim sprechen sein. die behandlung des polterns gehört in die hände geschulter sprachheillehrer." *aus einem medizisch-psychologischen lehrbuch.

das poltern der sprache trat bei ihm immer dann auf, wenn es galt, er müsse sich am unterricht beteiligen. während des unterrichts war oft nur sein körper anwesend. er sah aus dem fenster, war geistig abwesend. in seinen schulzeugnissen stand wieder: "dietmar beteiligt sich nicht am unterricht, seine versetzung ist gefährdet." sobald in der schule zum unterrichtsende die große schelle losrasselt, ist er allen anderen voraus durchs schultor geeilt. erst wenn er um die nächste straßenecke biegt, die schule außer sichtweite ist, atmet er befreit auf. den rest seines heimweges vertrödelt er. soweit er die häuser in diesem teil der straße vor augen hat, sind es damals meist bürgerliche gebäude, die meisten bescheiden eine lücke in der reihe schließend und noch ohne einschränkende städteplanung errichtet. würde er nach schulschluß rechts um die nächste häuserzeile gehen, so führe dieser weg in richtung des bahnhofs, hinter dem bahnhof wäre es nicht mehr weit bis zum schmölderpark.

diese texte sind autobiografisch, 1991-1996 entstanden in einer schweren lebenskrise. die wahl der 3. person ER statt ICH brachte genug emotionale distanz, um eine brücke zu sprache und schreibstil als erwachsener zu bauen.

ÄSTHETIK DES SCHEITERNS - ( aus buch 2 muttersprache/kindheit - das ganze buch hat 144 seiten ) © die-wege

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