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“Solange
man selbst redet, erf�hrt man nichts.”
Marie
von Ebner-Eschenbach
wegen
des lange vergessenen hundes erinnert er urplötzlich auch
das eckzimmer - in hochparterre -, ihre wohnung dort. ganz deutlich
sieht er den herd mit der verchromten stange ringsum. wo er als
kleiner junge herumturnt und seine beine unter den herd baumeln
1äßt. der stammplatz des hundes. in einem anderen jahr
liegt dort meist die katze, die niemals gelernt hat, auf mäuse
scharf zu sein. denn hin und wieder huschen dort mäuse an
der wand entlang - unter diesem herd. irgendwo hatten sie dort
einen durchschlupf gefunden, da er sie noch öfters auftauchen
und wieder verschwinden sah. die katze ist sehr scheu. wird sie
auf den fenstervorsprung gesetzt ( marga schließt es dann
immer gerne ), sofort springt sie runter auf den bürgersteig,
rast in einem scharfen bogen um die hausecke, schleicht, ängstlich
geduckt, flitzt die sieben, acht, neun oder zehn stufen einer
steintreppe im eiltempo rauf. im endspurt rast sie durch das meist
offene haustor, nimmt die letzte ecke, miaut kläglich vor
der wohnungstür. dieser katze bindet die schwester eines
tages eine längere fitzekordel um den hals. ein hund ist
devot und gehorsam. eine katze läßt sich nicht an die
leine legen, möge diese noch so lang sein. die katze springt
hin und her, versucht die kordel abzustreifen, schließlich
flieht sie und kriecht unter die couch, verheddert sich dort in
den sprungfedern. die kordel schlingt sich dabei enger und enger
um den hals. die katze röchelt. seine schwester steht stumm
und steif, hält immer noch diese kordel fest in ihren mädchenhänden.
endlich nimmt er seiner schwester die kordel aus der hand. er
findet ein kleines messer und kriecht unter die couch, fingert
nach dem hals der katze. es gelingt ihm, die kordel so zu fassen,
daß er eine hand dazwischen schieben kann. in der anderen
hand hat er das messer gehalten. so kann er die kordel noch rechtzeitig
vom hals der armen katze lösen. die schwester erinnere er
immer nur stumm, emotionslos, unbeteiligt. ihre kindergestalt
kenne er nur von einem einzigen alten foto, das er im nachlaß
der mutter findet. seine schwester hält sich am rock der
mutter fest, er aber, gerade zwei monate alt, nicht im arm der
mutter liegend, sondern ganz aufrecht sitzend, den kopf hoch haltend.
die mutter sieht ihn zwar an, er aber blinzelt ins unbestimmte.
hinter ihnen ahnt man einen sehr großen, uralten baum.
er
kann sich erlebnishaft und visuell an seine schwester ansonsten
überhaupt nicht erinnern - nicht in der kindheit. nur das erlebnis
mit der katze: dort ist sie der auslösende faktor; und doch
im gleichen moment bereits wieder total passiv. selbst noch in der
schreckensphase steht sie da, als hätte sie mit der situation
- die sie doch ausgelöst hat – gar nichts zu tun. dabei
erinnere er marga ja nur, weil deren einzige freude darin zu liegen
schien, die scheue katze zu ärgern. seltsamerweise sieht er
sie da sehr deutlich: unbewegt, nur die kordel immer noch in ihren
händen haltend. ihre einzige beteiligung schien darin zu liegen,
daß sie sich und diese verängstigte katze in eine beziehung
zu bringen versuchte. die aktivität, die kordel einfach loszulassen,
brachte sie wirklich nicht zustande. bis er ihr diese kordel abnahm.
die schwester ist dreiundeinhalb jahre älter als er. und zum
zeitpunkt der erinnerung ( die er visuell und im ablauf deutlich
erinnere ) ist er selbst höchstens sieben jahre. sie wäre
damals älter als zehn, fast elf jahre alt gewesen. oder beide
wären doch jünger. es habe sich genauso abgespielt. warum
hat er - bis zuletzt - keinerlei erinnerungen an sie? und das, obwohl
sie doch bis zu seinem zehnten lebensjahr zu dritt in einem zimmer
wohnten, etwa sieben oder acht in zwei zimmern, schließlich
in drei zimmern. zudem später die zeit in berlin, als mutter
und schwester bei ihm in seiner winzigen wohnung - in zwei zimmern
- hausten, ab 1968 sogar wieder in rheydt, als er gerade mal frisch
verheiratet war. nein, er kann sich absolut an nichts erinnern,
wo er seine schwester mal konkret vor augen habe. erst als sie ab
1976 selbst eine eigene wohnung hat, inzwischen verheiratet ist,
da erst kann er die schwester - situativ - wieder erinnern. und
dieser zeitpunkt fällt mit dem tod der mutter zusammen. über
diese totale beziehungslosigkeit hat er oft nachgedacht. daß
sie all die jahre zwar sehr beengt wohnten, es jedoch ansonsten
keinerlei gemeinsames leben zwischen seiner schwester und ihm gegeben
zu haben schien. das ist doch seltsam, wirklich sehr seltsam.
DIE
ERSTE UND EINZIGE ERINNERUNG AN SEINE SCHWESTER MARGA
diese texte sind autobiografisch, 1991-1996 entstanden in einer
schweren lebenskrise. die wahl der 3. person ER statt ICH brachte
genug emotionale distanz, um eine brücke zu sprache und schreibstil
als erwachsener zu bauen.
ÄSTHETIK
DES SCHEITERNS - ( aus buch 2 muttersprache/kindheit - das ganze
buch hat 144 seiten ) © die-wege
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