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KINDHEIT
- DENKZETTEL
sein
erstes zuhause, wo sie zu dritt bis zu seinem zehnten lebensjahr
wohnen, besteht aus einem eckzimmer, gelegen im hochparterre, in
der römerstrasse 140. unterm fenster zur strasse hin steht er, aus
einem der kellerfenster dringt ein rumpeln an sein ohr, seltsame,
polternde geräusche. er geht in die hocke, beugt seinen kopf tief
runter, um durchs kellerfenster zu gucken. da fliegt ein stück brikett
vom keller durchs fenster, ihm ins gesicht, fast ins auge. damals
war es das normale. plötzlich flog etwas durch die luft und ihm
an den kopf. ein stein, ein stück metall oder eine glasscherbe,
was zufällig greifbar war. sein kopf ist mit zahlreichen narben
signiert. sein kopf ist immer schon sein wunder punkt gewesen. in
strassenkämpfen, mit kindern aus jenem anderen wohnviertel, da sind
die grenzen - unsichtbar - gezogen. durch steinschlachten wird das
revier markiert. wenn man sich da einzeln zu weit vorwagt, kann
es passieren, dass man von einer horde kinder überfallen, an einen
baum gefesselt, ein wenig gequält und ausgeraubt wird. gegen ende
wird man mit einem denkzettel - als botschaft und warnung - wieder
freigelassen. wobei dieser denkzettel aus einem krakeligen schriftstück
besteht, dem ritus kinderkrieg quasi bedeutung verleihend. diese
beiden strassenviertel halten sich so gegenseitig auf abstand, praktisch
den grösstmöglichen steinwurf voneinander entfernt.
das marode gemäuer an der niers gab es noch; eine tunnelartige ruine,
wo die kinder sich vor zornigen vätern verstecken konnten oder sich
auch sonst trafen, weil diese ruine eine ganz besondere stimmung
machte, heimlich irgend etwas zu tun, das sonst niemand wissen durfte.
auch die kanäle neben der niers waren noch offen. dort klettern
sie oft an rostigen eisenstangen hinab. unten, in der kanalisation,
dort hausten die ratten, von den kindern mit stöcken und lautem
geschrei verfolgt, gejagt, bis die ratten im dunkel des kanals nicht
mehr sichtbar waren.
KIRCHE
& RELIGION
es
ist auf dem heimweg passiert, nach schulschluss. von zwei seitenstrassen
gesäumt, steht mittendrin die kirche ( st.josef ). die strasse verzweigt dort.
er geht nun rechts diese strasse entlang, weg von der kirche, auf einem breiten gehweg.
die schultasche hat er auf seinen rücken geschnallt. ganz plötzlich hört er
unmittelbar hinter sich die fahrgeräusche eines radfahrers.
dieser fährt unbeirrt auf ihn zu und er stürzt kopfüber
auf das pflaster, bleibt liegen - gehirnerschütterung. kopf,
alles klar? in diese kirche ist er, an einem anderen tag und in
einem andern jahr, das zweite mal zur taufe ganz allein gegangen.
da er 1944 in Österreich geboren wurde, war die eintragung
einer taufe wohl im kriegschaos verloren gegangen. diese 2. taufe
war eine reine formsache gewesen. da er allein mit dem pfaffen vor
dem becken stand, hat der gar kein grosses brimborium daraus
gemacht. heute meint er, dass dieser sich wenigstens ein paar
minuten mehr zeit hätte nehmen können, damit es für
ihn nicht so unglaubwürdig gewesen wäre. sehe man es im
zusammenhang mit der wichtigkeit, welche im katholischen glauben
dem sakrament der taufe zukomme, dann wird klar, warum sein naiver
glaube bereits in der kindheit erheblich gestört war.
zur ersten heiligen kommunion ist er woanders gegangen. aus mangel
an geld für kleidung und feier, weil sie im jahre 1955 umgezogen
sind, in ein andres viertel, mit 'ner andern kirche, anderen lehrern,
anderen kindern - anderem umfeld. dort ist er am 17.4.1955 zur 1.heiligen
kommunion gegangen; drei tage nach seinem geburtstag, also genau
mit 11 jahren. er hat noch ein kleines photo davon gefunden. sie
stehen vor dem kirchenportal: 33 knaben und 3 pfaffen, in reih und
glied. jedes kind hält den gekreuzigten jesus in den händen
- vor der herz-jesu-pfarre, in rheydt, morr. er, mit brille, steht
in der letzten reihe ganz aussen.
kindgemässe
unschuld und naivität wird sich wohl heutzutage allein wegen
des häufigen fernsehkonsums ganz anders entwickeln und darstellen,
als in seiner kindheit. soweit er sich an die einflüsse der
schule erinnern kann, waren die fächer schreiben, lesen und
zeichnen die einzigen, die ihn interessierten. die biblischen geschichten
habe er mit inbrunst gelesen. wenn sie im zeichenunterricht herbstblätter
o.ä. zeichnen sollten, so war er damit schnell fertig und fing
an, z.b. jesus mit seinen jüngern bei der stürmischen
überfahrt zu zeichnen. die lehrer sahen seine zeichnungen wohlwollend
an, sammelten sie ein, nahmen sie ihm weg!
ein beispiel kann seine naive ehrlichkeit verdeutlichen. es war
1964 in berlin, er war 20 jahre alt. bevor sein studium an der HfBK
*4 begann, war er ständig
zufuss unterwegs, um berlin kennenzulernen, zu erwandern. auf
dem weg zu einer gaststätte fand er einen geldschein vor dem
eingang. ohne nur eine sekunde zu zögern betrat er den raum,
ging an die theke und sagte dem wirt, er möge doch bitte
mal die gäste fragen, ob jemand einen geldschein vermisse.
der schien nicht zu verstehen und er wiederholte sich. daraufhin
rief der in den raum hinein, er habe es noch im ohr, wie sie lachten.
doch interpretierte er das nicht als spott. nein, er konnte nicht
anders handeln. nachdem niemand sich meldete, hätte er diesen
geldschein ja behalten können. doch weit gefehlt: er gab tatsächlich
den geldschein dem wirt, im guten glauben, dass der verlierer
den verlust bemerken und erschrocken den weg bis zur gaststätte
zurücklaufen werde. er selbst habe dann etwas bestellt, ein
buch gelesen, sich vom langen gehen ausgeruht. da kein verlierer
sich gemeldet hatte, bat er, als er dann aufbrach, um die herausgabe
des geldscheins, da er nun kein schlechtes gewissen haben müsse,
wenn er ihn einsteckte. der wirt jedoch lachte ihn abermals aus.
*4
= Hochschulde für Bildende Kunst - BERLIN
diese
texte sind autobiografisch, 1991-1996 entstanden in einer schweren
lebenskrise. die wahl der 3. person ER statt ICH brachte genug emotionale
distanz, um eine brücke zu sprache und schreibstil als erwachsener
zu bauen.
ÄSTHETIK
DES SCHEITERNS - ( aus buch 2 muttersprache/kindheit - das ganze
buch hat 144 seiten ) © die-wege
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